Post-Vac-Syndrom – langfristig Krank nach COVID-19-Impfung
Eine kurze Übersicht zum Stand von Forschung und Versorgung.
Die Coronapandemie hat die Gesundheitssysteme vor immense Herausforderungen gestellt und immer noch binden die protrahierten, postinfektiösen Beschwerden, welche als Long-COVID (LC) bezeichnet werden, viele Kapazitäten. Bereits im ersten Jahr der Impfkampagne gab es Berichte über Patientinnen und Patienten, die an einer LC-ähnlichen Symptomatik leiden, ohne zuvor an COVID-19 erkrankt zu sein [1, 2]. Die Symptome stehen bei diesen Betroffenen im Zusammenhang mit einer Coronaimpfung, weswegen diese Impfkomplikation unter anderem als Post-Vac-Syndrom (PVS) bezeichnet wird [1, 3]. Einige Autoren unterscheiden, abhängig von der Dauer, ein Akutes- und ein Post-Akutes-COVID-19-Vakzinationssyndrom (ACVS/PACVS) [4], siehe dazu Abbildung. In diesem Beitrag ist mit PVS die post-akute Form gemeint.
Typisch ist, dass die Beschwerden mit mehreren Wochen Latenz nach der Impfung ihren Höhepunkt erreichen und jahrelang persistieren [4, 5]. Das Krankheitsbild ist, ähnlich wie LC, mit einer Vielzahl an Symptomen verbunden, bei denen häufig Fatigue, kardiovaskuläre und neurologische Symptome im Vordergrund stehen [5, 30]. Oft führen körperliche oder geistige Beanspruchung zur Beschwerdezunahme, der sogenannten Post-Exertional-Malaise [5]. Phasenweise bestehen zudem Gelenk-, Glieder- und Kopfschmerzen [30]. Eine diagnostische Schwierigkeit liegt darin, dass vielerlei weitere unspezifische Symptome auftreten können, weswegen eine ausführliche Differenzialdiagnostik wichtig erscheint. Die beim PVS oft vorhandene chronische Fatigue tritt nicht nach banalen Infekten auf [6, 7]. Sie kann daher, gerade in Kombination mit den oben genannten Beschwerden, als Leitsymptom dienen.
Angelehnt an die LC-Definition von der Weltgesundheitsorganisation bietet sich für die klinische Praxis an, von einem PVS auszugehen, wenn innerhalb von drei Monaten nach einer COVID-19-Impfung Beschwerden auftreten, die mindestens zwei Monate andauern und nicht anders erklärt werden können [8].
Inzidenz
Studien zur Inzidenz des PVS liegen noch nicht vor. Eine Kurzanalyse des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), in der Diagnosen wie „Long-COVID“ oder „Chronic-Fatigue-Syndrom“ (CFS) unter gemeldeten Impfkomplikationen gesucht wurden, ist aus Sicht der Autoren ungeeignet, die tatsächlichen Fallzahlen abzubilden [9]. Denn weder LC, noch CFS waren in der Anfangszeit der Impfkampagne unter Meldenden bekannt. Allein mit einer Analyse der gemeldeten Symptome ließe sich gegebenenfalls das wahre Ausmaß von PVS nach COVID-19-Impfungen abschätzen. Das deutsche Spontanmeldesystem ist für derlei Analysen, wie das PEI selbst einräumt, zudem wenig geeignet, unter anderem weil „die Anzahl der geimpften Personen je Region nicht bekannt ist“ [9].
Auffällig ist indes, dass per 1. Mai 2024 in der Nebenwirkungsdatenbank der European Medicines Agency (EMA) europaweit 424.177 Fälle von Fatigue nach Impfung verzeichnet sind [10]. Bei mehr als zwei Dritteln davon (68 Prozent) ist keine vollständige Erholung dokumentiert. Daneben finden sich auch 339.903 Fälle von Muskelschmerzen. Die öffentlichen Daten lassen keine Analyse von Dauer oder Symptomclustern zu, weswegen tiefergehende Studien geboten sind. Alleine in der Marburger Post-Vac-Ambulanz waren 2023 über 7.000 PVS-Patienten auf der Warteliste und an anderen Zentren dürften es ähnlich hohe Zahlen sein [11]. Daher schätzen die Autoren die Fallzahl auf mindestens 10.000 alleine in Deutschland.
Pathogenese
Postvakzinationssyndrome und Autoimmunerkrankungen (AIE) sind als Impfkomplikationen lange bekannt [12, 13]. Angesichts der nahezu identischen Antigensequenz des Spike-Proteins bei Impfung und Infektion scheint ein gemeinsamer Pathomechanismus von LC und PVS plausibel [1]. Es wird diskutiert, ob die Spikes in Zellen persistieren, selbst pathogen wirken oder eine veranlagte AIE auslösen könnten [4, 14, 15, 16]. Zur Pathogenese von PVS bzw. LC werden international mehrere Theorien diskutiert und erforscht, vgl. Tabelle. Eine Schweizer Studie konnte kürzlich nachweisen, dass bei Patienten mit LC eine Veränderung des Komplementsystems vorliegt. Auch wenn in dieser Studie keine Patienten mit PVS eingeschlossen wurden, liegt es nahe, dass auch beim PVS diese Pathologie vorliegen könnte.
Abbildung: Zeitliche Unterteilung des Post-Vac-Syndroms in ACVS und PACVS in Analogie zu COVID-19 und Long-COVID.
Therapieansätze
Zu den Therapieansätzen, die teilweise denen von LC entsprechen, existieren derzeit nur kleinere Studien oder Expertenmeinungen. Heilversuche werden hierzulande nach ausgiebiger Diagnostik unter anderem an der Marburger Post-Vax-Ambulanz, den Post-Vac- bzw. LC-Ambulanzen der Unikliniken in Augsburg, Hannover, Göttingen, Erlangen und weiteren Hochschulen unternommen. Sie erfolgen teilweise im Rahmen von Studien. Zum Einsatz kommen international derzeit unter anderem Statine und AT1-Antagonisten (Uni Marburg [1, 3]), Triple-Antikoagulation (Uni Stellenbosch, Südafrika [17]) oder extrakorporale Blutwäscheverfahren [18, 19]. In den USA sind zudem Maraviroc, Ivermectin, Nattokinase und andere Substanzen verbreitet [20, 21]. Diese werden auch hierzulande in einigen Praxen eingesetzt. Die meisten Therapien werden durch ein personalisiertes Energiemanagement (sogenanntes Pacing) und Diäten ergänzt. Leider liegen derzeit für keinen der Therapieansätze Daten aus größeren, placebokontrollierten Studien vor. Einige Studien zu LC, die teilweise auch PVS-Kollektive einschließen, laufen noch.
Aufgrund des hohen Leidensdrucks gibt es eine rege Diskussion unter Betroffenen und Angehörigen in sozialen Medien. Dabei werden teilweise auch fragwürdige Methoden propagiert. Behandler sollten daher gezielt nach Nahrungsergänzungen und eigenen Therapieversuchen fragen, um Wechsel- und Nebenwirkungen zu überblicken.
Theorien zur Pathogenese des PVS nach COVID-19-Impfungen
» Entzündung des Gefäßendothels (Endotheliitis) [1, 4, 3 ,17 *]
» Störungen ACE-abhängiger vaskulärer und metabolischer Regelkreise [1, 3]
» Persistenz von Spike-Proteinen in Geweben bzw. Immunzellen [4, 24, 21 *]
» Störung im Metabolismus der Mitochondrien [27 *]
» Gerinnungsstörungen und Thrombozytenaktivierung [4, 25 *, 17 *]
» Bildung G-Protein-gekoppelter Auto-Antikörper (GPCR-AAK) [4, 26]
» Reaktivierung (unbekannter/bekannter) Keime (EBV, HSV, etc.) [4]
» Neuroinflammation [29 *] und Störung des Vagusnervs [28 *]
» Störung des Komplementsystems [25 *]
In den mit * gekennzeichneten Studien wurden nur Patienten mit LC untersucht, ein gemeinsamer Pathomechanismus mit PVS ist jedoch wahrscheinlich.
Versorgungssituation
Seit Kurzem regelt eine neue Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses die Versorgung von LC-, CFS- und PVS-Patienten, unter anderem mit einer Behandlungskoordination und einem Behandlungsplan [22]. Betroffene sollen sich dazu mit der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt auf dessen koordinierende Funktion verständigen. Solange diese Strukturen jedoch noch im Aufbau sind, ist eine effiziente Versorgung selten und die Patienten mit der Koordination meist auf sich alleine gestellt. Gerade für Schwerstkranke ist dies kaum zu bewerkstelligen. PVS-Patienten sind meist körperlich, kognitiv und sozial erheblich eingeschränkt, viele dauerhaft berufsunfähig [5]. Mit hohem Leidensdruck und großer Krankheitskomplexität stellen sie die Behandler vor Herausforderungen. Wegen der Unkenntnis über das Krankheitsbild werden weiterhin viele Patienten von ihren Behandlern psychiatrisiert und damit zusätzlich belastet.
Betroffene haben einen finanziellen Versorgungsanspruch nach dem am 1. Januar 2024 eingeführten Sozialgesetzbuch XIV. Hilfestellung bei den Anträgen leisten Sozialverbände und -vereine. Derzeit werden Versorgungsanträge jedoch von den Landesversorgungsämtern in der Regel abgelehnt, weil sich deren Gutachter noch immer auf die oben genannte unzureichende Stellungnahme des PEI stützen. Betroffene sind daher oft nicht nur gesundheitlich und sozial, sondern auch finanziell in einer Notlage. Die Betroffenenverbände hoffen jedoch auf die baldige Einarbeitung der neuen Forschungsergebnisse und damit auf eine zügige Versorgung der oft existenziell bedrohten Patienten und deren Familien.
Hilfe durch Selbsthilfe
Wichtig ist für viele Betroffene in dieser Gemengelage die Selbsthilfe. Bundesweit existieren zahlreiche Gruppen, deren Bundesverband CoVeRSE e. V. ihnen ehrenamtlich Hilfestellung und Interessenvertretung in der Politik bietet. Betroffenen kann der Verein helfen, eine lokale Gruppe zu finden. Dort erfahren sie über Gespräche psychosoziale Entlastung, können sich über Studien- und Therapieangebote austauschen und ihr Wissen durch Fachvorträge erweitern. CoVeRSE e. V. war am Runden Tisch des Bundesministeriums für Gesundheit für LC und PVS beteiligt [23]. Der Verein legt großen Wert auf wissenschaftliche Evidenz und pflegt ein Netzwerk zu Forschern, Kliniken und anderen Vereinen. Mittelfristige Ziele sind unter anderem die Förderung neuer Forschungsvorhaben sowie eine Verbesserung der Versorgungssituation für Betroffene, insbesondere durch qualifizierte Ambulanzen. Der Verein und die den Verein unterstützenden Autoren stehen auch externen Ärzten, Wissenschaftlern und anderen Vereinen für Fach- oder Studienanfragen sowie Kooperationen gerne zur Verfügung.
Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.
Autoren
Dr. Stephan Guevara Kamm
Timo Limbach
CoVeRSE e. V.
www.info-coverse.com
Kontakt zu den Autoren:
medizinischer-beirat@info-coverse.com
Bildunterschrift:
Abbildung: Zeitliche Unterteilung des Post-Vac-Syndroms in ACVS und PACVS in Analogie zu COVID-19 und Long-COVID.
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