Ärztliche Indikationsstellung
Wann ist weniger mehr, welche Therapie ist wirklich wichtig und wie können Patientinnen und Patienten bei der Auswahl geeigneter Behandlungswege besser eingebunden werden? Müssen wir eigentlich alles machen, was wir können? Oder müssen wir nicht vielmehr das, was wir machen, noch besser machen? Erfordert nicht gerade die hohe Komplexität der Medizin und die zunehmende Fragmentierung der Disziplinen eine Rückbesinnung auf das Wesentliche?
Indikationsstellung
Die enormen Leistungen der Medizin haben Hoffnungen geweckt, die nicht immer und überall erfüllt werden können. Wir Ärztinnen und Ärzte sollten nicht versucht sein, diese übermäßigen Ansprüche durch nicht-zwingend indizierte Behandlungen erfüllen zu wollen. Das wäre berufsethisch nicht zu vertreten und bei kontraindizierter Behandlung sogar rechtlich verwerflich. Hinzu kommt, dass der Minimierung des Patientenrisikos eine Maximierung des ärztlichen Haftungsrisikos gegenübersteht. Durch diese Verrechtlichung der Medizin besteht die Gefahr, dass sich eine Defensiv-Medizin entwickelt, die zu Überdiagnostik führen kann. Die medizinische Indikation muss deshalb ein gut begründbares fachliches Urteil des behandelnden Arztes darstellen, damit das – im Sinne der partizipativen Entscheidungsfindung – mit dem Patienten gemeinsam festgelegte Behandlungsziel erreicht wird. Die Indikation ist einerseits auf ein bestimmtes Behandlungsziel und andererseits auf einen bestimmten Patienten und seine aktuelle soziale Situation bezogen. Die Wünsche des Patienten sind grundlegend, aber wir müssen auch den zum Teil überzogenen Erwartungen und übersteigerten Ansprüchen entgegentreten. Die Indikation ist damit rational, konkret und individuell.
Dabei ist der Begriff der Indikation ein traditionsreicher und findet sich bereits in der „Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste“. In „Ethische Aspekte der Indikation“ wird darauf hingewiesen: „Indikation wird bestimmt als einen begründeten Entschluss zu einer bestimmten Handlung, der nicht mit der eigentlichen Handlung zu verwechseln sei“ (Anschütz 1983). Sie ist ein Vermittlungsglied, das die Krankheit, die Problem- oder Notlage eines Kranken mit der Therapie und anderen Handlungsschritten und -zielen verbindet. Eine Indikation muss aktiv „gestellt“ werden; und ergibt sich nicht von selbst aus einer (nosologisch-ätiologisch intendierten) Diagnosestellung.
Versorgungsbedarf
Am anderen Ende der Skala der Überversorgung ist die medizinische Unterversorgung der Patienten heute eines der größten Probleme. Keinesfalls dürfen wir zulassen, dass die medizinische Indikation zur quasi medizin-ökonomischen Indikation verkümmert. In unserem mehr und mehr ökonomisch ausgerichteten Gesundheitswesen haben multimorbide chronisch Kranke keine wirkliche Lobby. Der heutige Medizinbetrieb läuft Gefahr, sich immer mehr an gewinnbringenden diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen zu orientieren. Der akut erkrankte Patient ist der Willkommenere, der elektive Eingriff der Bevorzugte. Es ist bekannt, dass die Zahl der chronisch erkrankten Menschen und der psychisch Erkrankten in unserem Land steigt – und mit ihr die Herausforderung für das Gesundheitssystem. Chronisch und mehrfach Erkrankte sowie psychisch Kranke sind besonderen Belastungen ausgesetzt und haben besondere Versorgungsbedarfe. Sie benötigen auf Dauer angelegte Therapie- und Versorgungsangebote.
Klug entscheiden
Auf diese Entwicklungen in der Versorgung reagieren wir. Die Bundesärztekammer (BÄK) hat erst vor Kurzem eine Stellungnahme zur „Medizinischen Indikationsstellung und Ökonomisierung“ veröffentlicht. Die BÄK fordert darin, dass die Zielsetzung ärztlichen Handelns nicht in ein ökonomisch orientiertes Handeln umdefiniert werden darf. „Eine Kopplung der Indikation, die immer auf das Wohl des Patienten bezogen bleiben muss, mit vorrangig ökonomisch ausgerichteten Zielsetzungen erscheint in hohem Maße problematisch, weil damit das vertrauensvolle Arzt-Patient-Verhältnis als Voraussetzung für eine gute Therapie nachhaltig gefährdet würde“.
Die aus dem Amerikanischen stammende „Choosing Wisely Initia-tive“ (CWI – „Klug entscheiden“) hat sich mittlerweile auch bei uns etabliert und nimmt auch Einfluss auf die Leitlinienentwicklung. Sie verfolgt das Ziel, die offene Diskussion zwischen der Ärzteschaft, den Patienten und der Öffentlichkeit zum Thema Überversorgung zu fördern. Kern der CWI sind „Top-5-Listen“ aus jeder klinischen Fachdisziplin der Inneren Medizin; sie enthalten fünf medizinische Maßnahmen, bei denen gegenwärtig eine Überversorgung festzustellen ist und deshalb ein verstärkter Bedarf an Information und „Shared Decision Making“ besteht. Ich bin sicher, dass unsere Maßnahmen, die auf die individuelle Patienten-Arzt-Beziehung zielen, hilfreich sind, um gemeinsam mit dem Patienten medizinisch indizierte – sprich sinnvolle und notwendige – Behandlungsmaßnahmen festzulegen. Ein verantwortungsvoller Umgang des Arztes mit der Indikationsstellung ist schließlich grundlegend für das Vertrauensverhältnis zum Patienten und hilft dem Patienten, zwischen indizierten und nichtindizierten bzw. kontraindizierten Behandlungsmaßnahmen zu unterscheiden. Unser kooperatives Miteinander – unter den Fachgebieten wie zwischen den Professionen – ist dabei wesentlich für eine gut strukturierte Patientenversorgung. Wir alle müssen gemeinsam die notwendigen Standards setzen, die Kooperationen patientengerecht weiterentwickeln und die Vernetzung kollegial ausgestalten.
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