Alterstraumatologie – highlighted
Geriatrische Patientinnen und Patienten machen schon heute mehr als die Hälfte des unfallchirurgisch-orthopädischen Patientenkollektivs aus. Zukünftig wird sich der Anteil durch den demografischen Wandel der Gesellschaft und die Erhöhung der Lebenserwartung noch vergrößern. Da sich die Unfallmechanismen, die resultierenden Verletzungen und die auch aus den Lebensumständen abzuleitenden Therapiekonzepte erheblich von denen jüngerer Patienten unterscheiden, hat sich die Alterstraumatologie mit ihrem engen Bezug zur Geriatrie in den vergangenen Jahren als spezialisierter Teilbereich der Traumatologie herauskristallisiert.
Frakturen der unteren Extremität – Frühe Mobilität unter Vollbelastung als Prädiktor eines positiven Outcomes
Fall 1: Proximale Femurfraktur
Anamnese
Eine 85-jährige Patientin wird uns um 21 Uhr nach häuslichem Sturz und Wohnungsöffnung mit fraglichem Liegetrauma (durch Immobilisation auf einem harten Untergrund ausgelöste Rhabdomyolyse) rettungsdienstlich zugewiesen. Die Patientin berichtet über immobilisierende Schmerzen im Bereich des rechten Hüftgelenkes. Sie wohne allein zu Hause und sei Selbstversorgerin. In der Vergangenheit sei es bereits häufiger zu Stolperstürzen mit osteoporosespezifischen Frakturen (Sakrumfraktur, Wirbelkörperfraktur, pertrochantäre Femurfraktur links) gekommen. Als Gehhilfe benutze sie lediglich für die Mobilität außerhalb der Wohnung einen Rollator. Eine regelmäßige Medikation bestünde aus Cholecalciferol (Vitamin D3; Dosis: 1.000 I.E.) und ASS 100 mg zur Plättchenaggregationshemmung bei Zustand nach Carotis-Stenting vor 15 Jahren.
Diagnostik und Therapie
In der klinischen Untersuchung zeigt sich das rechte Bein verkürzt und außenrotiert, zudem besteht ein starker Druck- und Bewegungsschmerz rechts inguinal sowie trochantär. Die Bewegung im rechten Hüftgelenk ist schmerzbedingt aufgehoben. Zur Analgesie wird das Bein initial in einer Volkmann-Schiene immobilisiert, eine intravenöse Analgesie wurde bereits präklinisch begonnen. In der Röntgendiagnostik zeigt sich eine pertrochantäre Femurfraktur rechts (Abbildung 1 a). Laborchemisch präsentiert sich eine milde normozytäre normochrome Anämie bei einem Hämoglobinwert von 10,3 g/dl. Zudem zeigt sich ein erhöhter Kreatininwert bei 1,77 mg/dl (GFR 26 ml/min), die Creatinkinase liegt in einem frakturtypischen Bereich (243 U/l) ohne Hinweis auf ein zusätzliches Liegetrauma (Normwert < 150 U/l, Rhabdomyolyse > 1.500 U/l), weswegen die Genese der Kreatininerhöhung (vormals altersentsprechend normwertig) am ehesten als akutes Nierenversagen prärenaler Genese gewertet wird. Neben der durchgeführten „klassischen“ Diagnostik zeigt das bereits in der Notaufnahme durchgeführte geriatrische Screening (ISAR-Score: spezielles geriatrisches Screening für die Notaufnahme) einen Behandlungsbedarf durch die Geriatrie auf, die unmittelbar darüber in Kenntnis gesetzt wird. Ebenfalls noch in der Notaufnahme erfolgt die sonografisch gesteuerte Anlage eines Nervus-femoralis-Katheters zur Reduktion systemischer, potenziell delirogener Schmerzmittel. Im präoperativen Intervall erfolgt eine kontrollierte Flüssigkeitssubstitution mit dem Ziel, die Exsikkose auszugleichen und die Nierenretentionsparameter zu verbessern. Eine postrenale Genese wurde mittels Abdomensonografie ausgeschlossen. Die pertrochantäre Femurfraktur wird entsprechend den gesetzlichen Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) innerhalb von 24 Stunden [1] mittels Marknagelosteosynthese stabilisiert (Abbildung 1 b).
Postoperativ wird die Patientin in eine geriatrisch-frührehabilitative Komplexbehandlung, einschließlich täglicher unfallchirurgischer und geriatrischer Visite, aktivierender Pflege sowie physiotherapeutischer und ergotherapeutischer Behandlung eingeschlossen. Ab Tag 1 kann die Patientin am Rollator mit zunehmendem Bewegungsradius mobilisiert werden. Zudem werden Übungen zur Rumpfstabilität und Sturzprophylaxe durchgeführt. Der Barthel-Index (Tabelle 1) kann von initial 35 auf 50 Punkte gesteigert werden, die Esslinger Transferskala verbesserte sich deutlich von H3 auf H0 (Tabelle 2).
In den postoperativen laborchemischen Kontrollen zeigt sich erfreulicherweise eine Normalisierung der Nierenretentionsparameter. Die Wundverhältnisse präsentieren sich stets trocken und reizlos. Aufgrund der klassischen geriatrischen Kaskade multipler osteoporoseassoziierter Frakturen wird mit einer spezifischen Osteoporosetherapie mit Alendronsäure 70 mg 1 x wöchentlich begonnen und die fehlende tägliche Calcium-Supplementierung (500 mg) ergänzt. In Einvernehmen mit der Patientin organisiert unser Sozialdienst eine geriatrische Rehabilitationsbehandlung, in die sie am 15. postoperativen Tag in gutem Allgemeinzustand und Rollatormobilität in die Rehaklinik verlegt werden kann.
Diskussion
Alterstraumatologische Patienten sind charakterisiert durch das hohe Lebensalter, eine begleitende Multimorbitität und osteoporoseassozierte Frakturen. In der Regel sind alle Patienten in der Patientengruppe inkludiert, die über 70 Jahre alt sind und mindestens zwei geriatrische Nebendiagnosen aufweisen (Tabelle 3). Die besondere Vulnerabilität dieser Patienten verlangt eine enge interdisziplinäre Behandlung [4]. Durch dieses orthogeriatrische Co-Management konnte die posttraumatische Morbidität und Mortalität reduziert und ein besseres Outcome im Sinne einer höheren Patientenautonomie erzielt werden [5].
Das Kernstück des orthogeriatrischen Co-Managements ist die geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung. Diese wurde 2004 eingeführt und entwickelte sich seit der Neuauflage des bayerischen Fachprogramms Akutgeriatrie 2009 zu einem wichtigen Bindeglied zwischen akutgeriatrischen und unfallchirurgischen Maßnahmen. Einschlusskriterium ist neben oben genannten Charakteristika die drohende längerfristige Reduktion der Patientenautonomie. Letztere entsteht akut vor allem durch die traumaassoziierte Immobilität. In der Praxis werden daher insbesondere Frakturen der unteren Extremitäten sowie Frakturen der Wirbelsäule und des Beckenrings eingeschlossen. Die Komplexbehandlung erfolgt auf Basis von mindestens wöchentlich aktualisierten und interprofessionell festgelegten Behandlungsplänen. Meist konzeptioniert in zwei Wochenblöcken werden in der Komplexbehandlung mindestens 20 Einheiten verschiedener therapeutischer Disziplinen durchgeführt. Neben der Pflege, die in diesem Kontext ebenfalls eine aktivierend-therapeutische Ausrichtung hat, werden regelmäßig Physiotherapie, Ergotherapie, Psychologie und Logopädie involviert. Zudem werden regelmäßig verschiedene geriatrische Assessments durchgeführt (unter anderem Barthel, Esslinger Transferskala, Geriatrische Depressionsskala), um potenzielle Defizite beim Patienten aufzudecken und den Therapieerfolg zu quantifizieren.
Da die Wiedererlangung der Mobilität maßgeblich für die Patientenautonomie ist, steht am Anfang der Therapie eine belastungsstabile osteosynthetische Versorgung der Fraktur. Zum einen kann bei wechselnder oder reduzierter Compliance der Patienten, zum Beispiel im Rahmen eines postoperativen Delirs oder einer Demenz, die Einhaltung einer Teilbelastung im Rahmen der Nachbehandlung nicht garantiert werden. Zum anderen entsteht nur bei Vollbelastung der unteren Extremität eine ausreichende Rumpfstabilität und Belastungsfähigkeit der oberen Extremitäten sowie eine ausreichende Koordinationsfähigkeit, welche durch abnehmend kognitive und körperliche Ressourcen im Alter häufig schon gemindert sind.
In der Alterstraumatologie etablierte Techniken, die die Stabilität der Osteosynthese und damit die Belastbarkeit der Extremität erhöhen, sind:
» Die Nutzung von winkelstabilen Implantaten.
» Die Zementaugmentation der Implantate.
» Die anatomische Reposition auch im Schaftbereich langer Röhrenknochen, um den Knochen und nicht nur das Implantat als Kraftträger zu nutzen.
» Eine Doppelplattenosteosynthese am distalen Humerus und am distalen Femur, um die Kraftübertragung lateral und medial zu erzielen.
Sollte eine belastungsstabile Situation durch eine Osteosynthese nicht erzielt werden können, ist bei gelenknahen Frakturen immer auch die endoprothetische Versorgung zu erwägen.
Neben der adäquaten OP-Methode ist auch der Zeitpunkt der operativen Therapie relevant. Einerseits muss der Patient sich in einem Allgemeinzustand befinden, welcher eine operative Therapie zulässt, andererseits darf die Immobilität nicht unnötig durch lange präoperative Liegezeiten verlängert werden. Aufgrund der nachgewiesenen erhöhten Mortalität und Morbidität bei verlängerter präoperativer Phase > 48 Stunden [6] erließ der G-BA 2019 eine Richtlinie zur Versorgung der hüftgelenksnahen Femurfraktur (Inkraftsetzung Januar 2021), in dem eine operative Versorgung der Frakturen binnen 24 Stunden nach Erstkontakt verpflichtend wurde [1].
Wie im Fall erwähnt kann seit der Neuauflage der Leitlinie des Dachverbands Osteologie (DVO-Leitlinie) 2017 leitliniengerecht eine spezifische Osteoporosetherapie, zum Beispiel mittels Bisphosphonaten, auch ohne vorangehende DXA-Knochendichtemessung eingeleitet werden, sofern Frakturmorphologien vorliegen, die indizierend für eine manifeste Osteoporose sind (Tabelle 4) [7]. Ziel hierbei ist die schnellere Therapieeinleitung sowie die Vermeidung von diagnostischer Non-Compliance der Patienten. Zudem sollte bei allen alterstraumatologischen Patienten mit Frakturen eine Osteoporose-Basismedikation, bestehend aus Cholecalciferol und Calcium, eingeleitet werden. Bei einer Bettlägerigkeit kann auf Calcium verzichtet werden, da der nötige Knochenstoffwechsel durch fehlende Belastung nicht erreicht werden kann.
Frakturen der oberen Extremität: Konservative versus operative Therapie
Fall 2: Humeruskopffraktur
Anamnese
Eine 82-jährige Patientin wird uns mit Schmerzen im Bereich des rechten Oberarmes sowie einer Kopfplatzwunde links parietal zugewiesen. Die Patientin sei bei einem neu aufgetretenen Schwindel gestürzt und gegen einen Türstock gefallen. Eine Bewusstlosigkeit lag eigen-anamnestisch nicht vor, zudem zeigten sich keine Commotio-typischen Symptome. In der Eigenmedikation fand sich eine analgetische Dauertherapie mit Metamizol und Tilidin ohne eine indizierende Diagnose. Die Patientin wisse auch nicht, weshalb sie die Tabletten einnehme. Ein Tetanusschutz sei nicht sicher gegeben. Die Patientin lebt mit ihrer Tochter zusammen und wird von dieser unterstützt.
Diagnostik und Therapie
Bei der körperlichen Untersuchung zeigt sich eine 3 cm lange Rissquetschwunde links parietal, welche unmittelbar genäht wird. Der restliche Befund der Schädeluntersuchung einschließlich der Pupillen ist unauffällig. Im Bereich des rechten Humeruskopfes zeigt sich eine Druckschmerzhaftigkeit, die aktive Bewegung der Schulter ist schmerzbedingt nicht möglich. Die periphere Durchblutung, Motorik sowie Sensibilität des rechten Armes einschließlich der Funktion des N. axillaris sind unauffällig, ebenso der restliche Bodycheck. Laborchemisch zeigen sich keine wesentlichen Auffälligkeiten. Es erfolgt eine Tetanusauffrischimpfung, ein durchgeführtes EKG ist unauffällig. In den Röntgenaufnahmen der rechten Schulter in zwei Ebenen sowie nachfolgend einer CT der Schulter zeigt sich eine 3-Part-Humeruskopffraktur (Abbildung 2). Der rechte Arm wird in einer immobilisierenden Schultergelenkorthese ruhiggestellt und die Patientin wird stationär aufgenommen. Noch am Aufnahmetag kann die Fraktur mittels einer inversen Schulterendoprothese versorgt werden (Abbildung 3). Postoperativ kann die Patientin mithilfe physiotherapeutischer Aktivierung gut mobilisiert werden. Es erfolgte eine Aktivierungssequenz mit Mobilisierung der unteren Extremitäten, isometrischer Beübung, Transfer-Training und abschließend Stand- und Gangmobilisierung. Die vorbestehende Analgesie wird angepasst und eine Osteoporose Basistherapie mit einem Kombinationspräparat aus 500 mg Calcium und 1.000 I.E.
Cholecalciferol ebenso wie eine Knochendichtemessung initiiert. Aufgrund der neu aufgetretenen Schwindelsymptomatik werden eine 24-Stunden-Langzeit-Blutdruckmessung sowie ein 24-Stunden-Langzeit-EKG veranlasst. Hier zeigen sich keine Auffälligkeiten bei bereits vorbekannter arterieller Hypertonie. Bei Persistenz der Schwindelsymptomatik werden daher eine neurologische und HNO-ärztliche Vorstellung im ambulanten Bereich eingeleitet. Weiterhin wird vom Sozialdienst für die poststationäre Versorgung ein ambulanter Pflegedienst organisiert, sodass die Patientin am achten postoperativen Tag in ihr gewohntes häusliches Umfeld entlassen werden kann.
Diskussion
Die Therapie der geriatrischen Frakturen der oberen Extremität, insbesondere die Humeruskopffraktur, erlebte in den vergangenen 20 Jahren einen Paradigmenwechsel. Während man früher aufgrund der Invasivität bei multimorbiden Patienten eine konservative Therapie anstrebte, gilt mittlerweile die möglichst rasche Wiederherstellung der Funktion als oberstes Ziel. Zudem ist für die Wiedererlangung und Sicherung der Mobilität im Alter, zum Beispiel durch Nutzung von Gehhilfen, und auch für die posturale Kontrolle, die Funktionalität der Arme von hoher Bedeutung. Durch die im Vergleich zur konservativen Therapie schnellere Rekonvaleszenz können die Patienten ihre Alltagsautonomie schneller wiedererlangen und eine (höhere) Pflegebedürftigkeit kann poststationär vermieden werden [8]. Das Langzeit-Outcome der operativen und konservativen Therapie unterscheidet sich jedoch nicht signifikant [9]. Die Indikationsstellung zu operativer versus konservativer Therapie ist von der Frakturmorphologie, dem Allgemeinzustand und dem Mobilitätsanspruch der Patienten abhängig.
Entgegen immobilisierender Verletzungen der unteren Extremitäten werden Frakturen der oberen Extremität seltener in frührehabilitative Komplexbehandlungen eingeschlossen. Dennoch ist die interdisziplinäre, alterstraumatologische Behandlung ein essenzieller Baustein für die Genesung und Aufrechterhaltung der Autonomie dieser Patienten. Wie im Fall beschrieben, finden sich häufig in der Eigenmedikation sturzfördernde Medikamente, welche zum Teil unentdeckt ohne rechtfertigende Indikation weiter eingenommen werden. Gerade bei umfangreichen Medikationsplänen fällt es nicht nur den Patienten, sondern auch häufig behandelnden Ärzte schwer, den Überblick zu behalten, und den Sinn und Nutzen verschiedener Medikamente richtig einzuschätzen. Ein „Drug-Review“ inklusive optionaler elektronischer Interaktions-prüfung durch die, im alterstraumatologischen Team eingebundenen Geriater, dient dazu, überbordende Medikationspläne zu überprüfen und insbesondere sturzfördernde Medikamente kontrolliert abzusetzen. Dies findet bei optimalen Bedingungen unter enger Rücksprache mit dem behandelnden Allgemeinmediziner statt.
Wirbelsäulen- und Beckenringfrakturen: Neue Klassifikationen osteoporose-assoziierter Frakturen
Fall 3: Beckenringfraktur
Anamnese
Eine 86-jährige Patientin wird von einer geriatrischen Rehabilitationsklinik bei Schmerzexazerbation im Bereich der linken Hüfte zugewiesen. Sie absolviert dort eine Rehabilitationsmaßnahme nach einer konservativ therapierten, nicht dislozierten vorderen Beckenringfraktur links. Infolge eines erneuten Sturzes zeigt sich eine deutlich reduzierte Mobilisation. Als weitere relevante Vorerkrankungen hat die Patientin eine KHK, chronische Pankreatitis, Diabetes mellitus Typ 2, eine fortgeschrittene Coxarthrose beidseits und eine manifeste Osteoporose. Letztere wird bereits mit einem Bisphosphonat und einem Kombinationspräparat von Calcium und Cholecalciferol therapiert.
Diagnostik und Therapie
Die Patientin zeigt sich in einem reduzierten Allgemeinzustand mit nicht vollständiger Orientierung bei vorbekannter Delirneigung. In der klinischen Untersuchung können ein Beckenkompressionsschmerz linksbetont sowie bewegungs- und belastungsabhängige Schmerzen der linken Hüfte festgestellt werden. Die konventionell-radiologischen Aufnahmen des Beckens zeigen eine im Vergleich zu den Voraufnahmen vermehrte Dislokation der vorbekannten vorderen Beckenringfraktur links sowie eine fragliche Fraktur des rechten vorderen Beckenrings und des Sakrums (Abbildung 4). Das daraufhin durchgeführte CT des Beckens bestätigt die Verdachtsdiagnosen mit einer beidseitigen Sakrumfraktur und einer zusätzlichen Fraktur des Proc. transversus des LWK 5 (Abbildung 5). Bereits bei stationärer Aufnahme wird die Patientin in die geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung eingeschlossen. Aufgrund der bereits in der Rehaklinik erfolglos begonnenen konservativen Therapie mit Frakturprogress wird eine zeitnahe operative Therapie indiziert. Diese erfolgt am dritten stationären Behandlungstag nach präoperativer Konditionierung der Patientin (Flüssigkeitsmanagement, Alimentation hochkalorischer Nahrung, physiotherapeutische isometrische Übungen, prophylaktisches Delirmanagement). Im Sinne einer „One-Hit-Surgery“ wird der hintere Beckenring mit einem perkutan eingebrachten Fixateur interne (Iliolumbale Abstützung) versorgt und der vordere Beckenring mit einer symphysenübergreifenden Plattenosteosynthese stabilisiert (Abbildung 6). Anschließend bessert sich die Mobilisation der Patientin deutlich, der Barthel-Index stiegt von 40/100 bei Aufnahme auf 55/100, die Esslinger Transferskala verbessert sich von H3 auf H1. Zudem kann durch physio- und ergotherapeutische Aktivierungstherapie eine deutliche Verbesserung der Alltagskompetenz und Koordination erreicht werden. Über den Sozialdienst wird eine geriatrische Rehabilitationsbehandlung organisiert, wohin die Patientin am 23. Tag mit einer Gehstrecke von 250 m am Rollator verlegt werden kann.
Diskussion
Beckenfrakturen geriatrischer Patienten unterscheiden sich deutlich gegenüber jüngeren Patienten bezüglich Frakturmorphologie und Trauma-mechanismus. Während bei jüngeren Patienten häufig ein Hochenergietrauma (Starke Krafteinwirkung: zum Beispiel Verkehrsunfall, Sturz aus großer Höhe, Explosionstrauma) vorliegt, genügt bei alten Patienten schon ein Bagatelltrauma. Selten ist sogar kein ursächliches Trauma eruierbar. So kommt es bei älteren Patienten im Rahmen der Beckenfrakturen seltener zu Begleitverletzungen von Nerven, Gefäßen, ligamentären Strukturen sowie des Weichteilmantels. Zudem können bei den Niedrigenergiefrakturen (Schwache Krafteinwirkung: zum Beispiel Sturz auf der Ebene, Sturz aus sitzender Position, Bagatelltrauma) stabile Frakturverhältnisse im hinteren Beckenring vorliegen, welche durch die gebräuchliche AO-Klassifikation nicht abgebildet werden. Aufgrund dieser Unterschiede wurde 2013 von P. M. Rommens die neue Klassifikation „Fragility Fractures of the Pelvis“ (FFP) publiziert, die den Anspruch erhebt entgegen der standardisierten AO-Klassifikation eine bessere Stratifikation der osteoporotischen Beckenringfraktur zu bieten [10]. Die Frakturen werden nach Stabilität in vier Gruppen unterteilt. Jede Gruppe hat mehrere Subgruppen, in denen die Frakturmorphologien charakterisiert sind.
Häufig unterliegt die osteoporoseassozierte Beckenringfraktur einer Dynamik. Unmittelbar nach Stolpersturz, oder unter zyklischer chronischer Überlastung der osteoporotischen Knochenstruktur kommt es zu Knochenfissuren, die konventionell radiologisch und auch in einer CT nicht auffallen, sich jedoch in einem bei persistierender Schmerzsymptomatik durchgeführten MRT in Form eines Knochenödems bildmorphologisch manifestieren (Abbildung 7). Ist der Beckenring in diesem frühen Stadium häufig nur an einer Stelle gebrochen, so kommt es unter fortlaufender Belastung zur Ermüdung anderer Beckenringabschnitte und zur zunehmenden Demarkierung der Frakturareale. Die Instabilität führt zu persistierenden immobilisierenden Schmerzen, sodass in diesen fortgeschrittenen Stadien eine operative Therapie indiziert ist. Parameter, die bei geriatrischen Patienten grundsätzlich neben der Frakturmorphologie die Indikation für eine konservative versus operative Therapie beeinflussen, sind: die Ausprägung der Knochendichtereduktion (T-Score), die Dynamik des Schmerzverlaufs, die ASA-Risikoklassifikation (präoperative anästhesiologische Risikoeinschätzung basierend auf Empfehlungen der American Society of Anaesthesiologists), der Body-Mass-Index, das Vorhandensein einer Demenz, das Vorhandensein aktiver gerinnungshemmender Medikamente und die Patientenautonomie. In der Klassifikation der osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen wurden diese im Rahmen eines OF-Scores („Osteoporotische Fraktur“) von der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie zur Therapieentscheidung bereits evaluiert und etabliert [11].
Das operative Verfahren sollte bei vulnerablen geriatrischen Patienten stets in Abwägung zu dem operativen Zugangstrauma gewählt werden. Für den hinteren Beckenring kann, je nach Frakturmorphologie, eine sakroiliakale Schraubenosteosynthese, eine Plattenosteosynthese oder eine interne Fixation mittels Schrauben-Stab-System (Fixateur interne) durchgeführt werden. Im Bereich des vorderen Beckenringes haben sich in Abhängigkeit von der Frakturkonfiguration und Lokalisation die symphysen-/acetabulumübergreifende Plattenosteosynthese und die perkutane Kriech-Schrauben-Osteosynthese durchgesetzt. Zudem werden zunehmend auch perkutan eingebrachte Kunststoff-Stabilisierungen verwendet [12].
Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.
Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen oder persönlichen Beziehungen zu Dritten haben, deren Interessen vom Manuskript positiv oder negativ betroffen sein könnten.
Das Wichtigste in Kürze
Bei alterstraumatologischen Patienten hat der Erhalt der Alltagsautonomie höchste Priorität. Hierzu wird eine frühe Mobilisation angestrebt.
Alterstraumatologische Frakturen müssen belastungsstabil osteosynthetisch oder endoprothetisch versorgt werden, sodass auch bei reduzierter Compliance ein komplikationsarmer Therapieerfolg erzielt werden kann.
Es werden zunehmend neue Klassifikationen osteoporotischer Frakturen etabliert, die nicht nur auf frakturmorphologischen Kriterien basieren, sondern auch an den Patientenressourcen orientiert sind und die Frakturdynamik erfassen.
Eine interdisziplinäre und interprofessionelle Betreuung alterstraumatologischer Patienten durch Unfallchirurgie und Geriatrie und ein gut eingespieltes interprofessionelles Team vermindert die Morbidität und Mortalität dieser Patienten.
Autoren
Professor Dr. Rainer Kretschmer
Alterstraumazentrum CURA (DGU) der Klinik für Unfallchirurgie, Caritas Krankenhaus St. Josef Regensburg, Landshuter Straße 65, 93053 Regensburg
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