Beurteilungswerte für Schadstoffe - Einschätzung des Gesundheitsrisikos

Beurteilungswerte für Schadstoffe

Schon Paracelsus sagte „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei.“ Neben dem Gefährdungspotenzial einer Substanz (toxikologische Eigenschaften, Wirkungen, Giftigkeit), ist damit die Exposition gegenüber einer Substanz (Aufnahme) entscheidend für das Gesundheitsrisiko, das heißt die Wahrscheinlichkeit, dass durch eine Substanz ein gesundheitlicher Schaden entsteht. Der Mensch ist grundsätzlich lebenslang gegenüber einer Vielzahl potenziell toxischer Stoffe exponiert, die durch Fortschritte der Analytik zunehmend auch in geringsten Konzentrationen – zum Teil weit unterhalb von Wirkschwellen – in der Umwelt und im menschlichen Organismus nachgewiesen werden können. Es bedarf somit neben dem analytischen Nachweis einer Substanz immer auch einer gesundheitlichen (toxikologischen) Bewertung, um ein mögliches Gesundheitsrisiko abzuschätzen.

Einschätzung des Gesundheitsrisikos

Für die Einschätzung des Gesundheitsrisikos potenziell toxischer Substanzen können verschiedene Erkenntnisquellen herangezogen werden. Hohe Relevanz haben dabei – soweit vorhanden – Erkenntnisse über Effekte beim Menschen, zum Beispiel durch Exposition gegenüber einem Gefahrstoff am Arbeitsplatz oder im Rahmen epidemiologischer Studien in der Allgemeinbevölkerung. In epidemiologischen Studien sind häufig jedoch nicht alle Einflussfaktoren bekannt und eine Aussage darüber, ob ein gefundener statistischer Zusammenhang ursächlich (kausal) ist oder nicht, ist oft nicht möglich. Daher werden die erforderlichen Daten zu Wirkungen, Wirkmechanismen und Dosis-Wirkungsbeziehungen häufig im Tierversuch oder experimentellen Studien an Probanden ermittelt.
Auf dieser Basis werden Beurteilungswerte festgelegt, indem die Ausgangsdosis (zum Beispiel einem NOAEL, No Observable Adverse Effect Level; Dosis ohne nachteilige Wirkung auf den Organismus) aus der am geeignetsten erscheinenden Studie mit Sicherheitsfaktoren verknüpft wird. Hierbei muss immer auch das jeweilige Schutzgut berücksichtigt werden. Je nachdem ob zum Beispiel Arbeiter in einem Industriebetrieb oder die Allgemeinbevölkerung (zum Beispiel auch Kinder, vorgeschädigte Personen) geschützt werden sollen, ergeben sich unterschiedliche Wertsetzungen. Für die Bewertung von Stoffen mit einer Wirkschwelle kommt dabei meist das sogenannte ADI- oder TDI-Konzept (ADI = Acceptable Daily Intake, TDI = Tolerable Daily Intake) zum Tragen. Hier wird zum Beispiel nach Ermittlung des NOAEL im Langzeit-Tierexperiment durch Anwendung von Sicherheitsfaktoren, die die biologische Variabilität in der menschlichen Population und die Übertragung der tierexperimentellen Ergebnisse auf den Menschen berücksichtigen, die Menge eines Stoffes ermittelt, die über die gesamte Lebenszeit pro Tag aufgenommen werden kann, ohne Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit zu haben. Hierdurch wird dem Vorsorgegedanken Rechnung getragen und auch besonders empfindliche Gruppen (zum Beispiel Schwangere und Kinder) mitberücksichtigt.
Eine Besonderheit stellen Substanzen dar, für die keine Wirkschwelle definiert werden kann. Das bedeutet, dass keine Dosis angegeben werden kann, unter der es nicht zu adversen Wirkungen kommen kann. Beispiele hierfür sind die Auslösung einer allergischen Reaktion oder gentoxische Kanzerogene, die die DNA direkt schädigen und so zur Auslösung einer Krebserkrankung beitragen können. Da sich in diesen Fällen aus wissenschaftlicher Sicht derzeit oft keine sichere Aufnahmemenge, unter der eine gesundheitliche Gefährdung ausgeschlossen werden kann, ableiten lässt, müssen hier andere Wege beschritten werden. Besonders empfindliche Personen (zum Beispiel Allergiker) können durch entsprechende Warnhinweise über die möglichen Gefahren informiert werden, oder es wird zum Beispiel für Kanzerogene ein sogenanntes akzeptables Risiko definiert, wie ein nicht mehr messbares (zusätzliches) Krebsrisiko von 1:100.000 oder 1:1.000.000 entsprechend exponierter Personen. Solchen Festlegungen liegen dann neben wissenschaftlichen Erkenntnissen auch Konventionen zugrunde und sie erfordert einen allgemeinen gesellschaftlichen Konsens (zum Beispiel was noch akzeptabel ist).
Um wissenschaftlicher Unsicherheit Rechnung zu tragen und auch derzeit nicht sicher fassbare Risiken aus Gründen der gesundheitlichen Vorsorge möglichst zu vermeiden, können der Bewertung auch Minimierungsprinzipien zugrunde gelegt werden (ALATA = as low as technically achievable, ALARA = as low as reasonably achievable).

Beurteilungswerte für die Praxis

Anhand der oben geschilderten Prinzipien können konkrete Beurteilungswerte für unterschiedliche Expositionsmedien und -pfade des Menschen abgeleitet werden. Für Beurteilungswerte im Bereich der öffentlichen Gesundheit spielt dabei das Vorsorgeprinzip eine große Rolle. Unter Annahme eines Risikokontinuums sollen Risiken auch weit unterhalb von Gefahrenschwellen oder gar Wirkschwellen erkannt und minimiert werden. Hierbei müssen Grenzwerte, Richt- oder Leitwerte und Referenzwerte unterschieden werden. Richt- und Leitwerte haben einen empfehlenden Charakter, während Grenzwerte rechtlich verbindlich sind. So stellen MAK-Werte (maximale Arbeitsplatzkonzentrationen) Empfehlungen für den Arbeitsplatz dar, während AGW-Werte (Arbeitsplatzgrenzwerte) für diesen Bereich rechtlich verbindlich sind. Ein anderes Beispielpaar sind die Luftleitwerte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Grenzwerte nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG). Beurteilungswerte werden immer von Fachexperten auf der Basis der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur abgeleitet, während bei Grenzwerten im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zusätzliche Aspekte (zum Beispiel politisch-regulatorische) berücksichtigt werden. Nicht zuletzt können sogenannte Referenzwerte (95. Perzentile üblicherweise gefundener Konzentrationen) als Beurteilungsmaß dafür herangezogen werden, ob überhaupt eine unübliche, über die unvermeidbare Hintergrundbelastung im jeweiligen Medium (Umwelt, Blut oder Urin) hinausgehende Exposition vorliegt.
Bei gesundheitlich (toxikologisch) begründeten Beurteilungswerten kommt häufig ein Zwei-Werte-Drei-Bereiche-System zur Anwendung, mit einem unteren Zielwert im Bereich der Vorsorge, und einem oberen Interventionswert, bei dessen Überschreitung zwar noch kein konkreter Gesundheitsschaden, aber bei langfristiger Exposition ein nicht mehr akzeptables Risiko für einen Gesundheitsschaden und damit Handlungsbedarf zur Reduktion der Belastung besteht. Expositionen in der „Grauzone“ zwischen unterem und oberem Beurteilungswert sollten Anlass sein, aus Vorsorgegründen unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit Maßnahmen zu ergreifen, den unteren Wert langfristig wieder einzuhalten.
So existieren zum Beispiel für den Bereich der Innenraumluft der sogenannte Richtwert (RW) I und II des Ausschusses für Innenraumrichtwerte (AIR). Der RW I ist die Konzentration eines Stoffes in der Innenraumluft, bei der im Rahmen einer Einzelstoffbetrachtung nach gegenwärtigem Kenntnisstand auch bei lebenslanger Exposition von empfindlichen Personen keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu erwarten sind. Der RW II stellt die Konzentration eines Stoffes in der Innenraumluft dar, bei deren Erreichen bzw. Überschreiten unverzüglich Handlungsbedarf besteht, da diese Konzentration geeignet ist, insbesondere bei Daueraufenthalt in den Räumen die Gesundheit empfindlicher Personen einschließlich Kindern zu gefährden. Aus Vorsorgegründen besteht auch im Konzentrationsbereich zwischen RW I und RW II Handlungsbedarf (zum Beispiel technische und bauliche Maßnahmen am Gebäude oder verändertes Nutzerverhalten). RW I kann als Zielwert bei der Sanierung dienen. Bisher wurden Richtwerte für ca. 50 potenziell toxische Stoffe in der Luft von Innenräumen abgeleitet (Näheres unter AIR 2018).
Für die Beurteilung potenziell toxischer Substanzen in Humanproben (zum Beispiel Blut oder Urin) stehen die sogenannten Human-Biomonitoringwerte der Kommission Human-Biomonitoring beim Umweltbundesamt zur Verfügung, die ähnlich den Innenraumrichtwerten eingesetzt werden können. Bisher wurden Werte für ca. 20 Stoffe bzw. Stoffgemische festgelegt (Näheres unter UBA 2018).
Für weitere Informationen bezüglich bestehender Beurteilungswerte von Schadstoffen in verschiedenen Medien sind die Internetseiten der zuständigen Bundesbehörden geeignete Anlaufstellen. So informiert die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin über Chemikalien und Biozide (www.baua.de), das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte über Arzneimittel und Medizinprodukte (www.bfarm.de), das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit über Pflanzenschutzmittel, Tierarzneimittel und Lebensmittel (www.bvl.bund.de) und das Umweltbundesamt über Luftschadstoffe, Trinkwasser (www.­umweltbundesamt.de). Toxikologische Risikobewertungen zu zahlreichen Fragestellungen finden sich auf der Seite des Bundesinstituts für Risikobewertung (www.bfr.bund.de).

Beispiel Stickstoffdioxid (NO2)

Ein aktuelles Beispiel ist die in Deutschland laufende, zum Teil kontrovers geführte öffentliche Diskussion zu den Gesundheitsrisiken durch NO2, insbesondere in Zusammenhang mit den Emissionen von Dieselkraftfahrzeugen in Städten.
Stickstoffoxide entstehen als unerwünschte Nebenprodukte bei Verbrennungsprozessen. Hauptquellen sind Verbrennungsmotoren und Feuerungsanlagen für fossile Brennstoffe. Nach Schätzungen wurden 2015 deutschlandweit 38 Prozent der NO2-Emissionen durch den Verkehr, 25 Prozent durch die Energiewirtschaft, 15 Prozent durch Industrie und Gewerbe, elf Prozent durch die Landwirtschaft und elf Prozent durch Haushalt/Kleinverbraucher sowie weitere kleinere Aktivitäten verursacht (UBA 2018). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Exposition der Bevölkerung sehr unterschiedlich verteilt ist, niedriger in ländlichen Regionen und höher in Ballungsräumen (zum Beispiel verkehrsnah).
Zum Schutz der menschlichen Gesundheit und zur Abwehr erheblicher Belästigungen der Allgemeinbevölkerung wurden daher europaweit Grenzwerte auf der Basis der EU-Richtlinie 2008/50/EG festgelegt, die mit der 39. BImSchV in deutsches Recht umgesetzt wurden. Für Stickstoffdioxid liegt der 1-Stunden-Grenzwert bei 200 µg/m³ und der Langzeitwert als Jahresmittel bei 40 µg/m³.

Kurz zu den Hintergründen der Festlegung
Kurzzeit-Exposition

Der vorgenannte Grenzwert der BImSchV für die Außenluft von 200 µg/m³ wurde auf der Basis einer WHO-Empfehlung aus dem Jahr 2000 festgelegt. Er basiert auf kontrollierten Probandenstudien, bei denen die niedrigsten Wirkkonzentrationen zwischen 380 und 560 g/m³ als Veränderungen der Lungenfunktion und des Atemwegswiderstandes bei leichten Asthmatikern beschrieben wurden. Unter Berücksichtigung eines Sicherheitsfaktors von 2 wurde dann der oben genannte Wert festgelegt. Auch die US-amerikanische Umweltschutzbehörde hat zum Schutz vor Kurzzeiteffekten einen Stundenmittelwert von 190 µg/m³ vorgeschrieben.
Für die Innenraumluft, in der neben der Außenluft gegebenenfalls spezifischen Innenraumquellen (zum Beispiel Gasherde, Kaminöfen) eine Rolle spielen können, hat der AIR für eine Kurzzeit-Exposition einen RW I von 80 µg/m³ (Vorsorgewert) und einen RW II von 250 µg/m³ (Gefahrenwert) abgeleitet. Ausganspunkt waren hier irritativ-entzündliche Bronchialveränderungen nach einstündiger NO2-Exposition mit 500 µg/m³ als niedrigste beobachtete Wirkungskonzentration
bzw. 1.500 µg/m³ als niedrigste beobachtete adverse Wirkungskonzentration bei Probanden mit leichtem Asthma. Insgesamt kommen mittlerweile verschiedene internationale Expertengremien zu dem Schluss, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer Kurzzeitexposition mit NO2 und der Lungengesundheit angenommen werden kann.

Langzeit-Exposition

Der Wert der WHO von 40 µg/m³ (als Jahresmittel), der auch Eingang in die Grenzwertsetzung der EU gefunden hat, wurde im Jahr 2000 auf der Basis von Studien abgeleitet, bei denen pro 30 µg/m³-Erhöhung eine 20-prozentige Risikoerhöhung für Atemwegssymptomen bei Kindern beobachtet wurde. Epidemiologische Studien zeigen eine Assoziation zwischen einer langfristigen NO2-Belastung und respiratorischer bzw. kardiovaskulärer Mortalität sowie Atemwegssymptomen bzw. Lungenentwicklung. Allerdings wird der Zusammenhang von Expertengremien insgesamt als nicht so eindeutig eingeschätzt, da nicht immer klar ist welchen Anteil das NO2 an den beobachteten Effekten des komplexen Umweltaerosols hat. Sowohl die WHO 2016 als auch die US-amerikanische Umweltbehörde schätzen die wissenschaftliche Evidenz deshalb nur als „hinweisend auf einen kausalen Zusammenhang“ ein.
Eine andere häufig aufgeworfene Frage bezüglich NO2 sind die auf den ersten Blick unterschiedlichen Grenzwerte für die Außenluft (Jahresmittelwert 40 µg/m³) und an Arbeitsplätzen (AGW von 950 µg/m³). Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass ihre Ableitungsgrundlagen und die Schutzgüter vollkommen unterschiedlich sind und sie nicht unmittelbar miteinander verglichen werden können. AGW gelten nur an Arbeitsplätzen, an denen mit dem Gefahrstoff NO2 auch umgegangen wird wie im Steinkohlenbergbau und bei der Nitrozelluloseherstellung, also zum Beispiel nicht an Büro- und anderen Industriearbeitsplätzen. Außerdem werden sie für gesunde Arbeitnehmer, die arbeitsmedizinisch betreut werden und acht Stunden pro Tag, 40 Stunden pro Woche und über 40 Arbeitsjahre in dem Betrieb tätig sind, festgelegt. Demgegenüber müssen Außenluftgrenzwerte die gesamte Bevölkerung, auch Risikogruppen, Kinder und Vorerkrankte, und dies lebenslang, schützen.

Zusammenfassung

Gesundheitliche Beurteilungswerte müssen immer auch vor dem Hintergrund der jeweils verfügbaren wissenschaftlichen Literatur gesehen werden. Gerade in den vergangenen Jahren haben sich unsere Kenntnisse zu den gesundheitlichen Wirkungen von Bestandteilen des Umweltaerosols deutlich erweitert. Auch vor diesem Hintergrund hat die WHO 2017 beschlossen, ihre Leitwerte erneut zu überprüfen und sie dem aktuellen Wissensstand anzupassen. Nach der möglichst transparenten und gut dokumentierten Festlegung von Beurteilungswerten durch Expertengremien, wird dann der weitere Prozess der Umsetzung in Rechtsvorschriften beginnen.
In jedem Fall bleibt die aus dem Bundes-Immissionsschutzgesetz erwachsene Verpflichtung bestehen, gesundheitliche Risiken unter Vorsorgegesichtspunkten zu minimieren und Gesundheitsgefahren aber auch erhebliche Beeinträchtigungen auszuschließen.
Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-ärzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Autoren
Professor Dr. Bernhard Liebl, Privatdozentin Dr. Stefanie Heinze, Professorin Dr. Caroline Herr, Dr. Henning Hintzsche, Dr. Andreas Zapf, Professor Dr. Hermann Fromme

alle Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL)

Korrespondenzadresse: Professor Dr. Bernhard Liebl, Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie, Bereichsleiter, Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Veterinärstraße 2, 85764 Oberschleißheim

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