Der große Regelkreis des Corona-Managements – systemisch suboptimal?

Der große Regelkreis des Corona-Managements

Wir haben nun alle gelernt, dass man Pandemie-Wellen reiten muss. Bald in ­einem Wellental, kann man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Winter-­Welle erwarten. Es fragt sich, wie die ­verbleibende Zeit zur Qualitätssicherung genutzt werden kann. Ein Bild vom großen Ganzen könnte hilfreich sein.

1. Qualitätssicherung im Krisen-Management der Pandemie

Die SARS-CoV-2-Pandemie hat, so scheint es, in unserem Spätwinter 2020 alle Länder dieser Welt überrascht, obwohl in Gesundheitsministerien und anderen Institutionen, wie dem Katastrophenschutz, schon länger Pläne zum Pandemie-Management vorlagen. Die umfassenden harten „Lockdowns“ waren zunächst die effektivsten Antworten. „Distancing“, Masken-Tragen usw. kamen dazu und das Wellenreiten nahm seinen Lauf. Die Sommerpausen des Virus wurden sowohl 2020 wie auch 2021 kaum für strategische Verbesserungen genutzt, wenngleich alle Management- und Qualitätsmanagement-Erfahrenen das zyklische ­Modell des „Plan-Do-Check-Act“ (PDCA-Zyklus) kennen. Es handelt sich um einen Regelkreis, der als Leitmodell dem Management auch zur ­optimierenden Selbstreflexion dient.

2. Das Corona-Problem im Systemmodell – der „Große Regelkreis“ und die Politik als Regler

Der gesamtgesellschaftliche Regelkreis – der große „Loop“ – besteht aus mehreren Komponenten (Abbildung): Das Virus (1) infizierte die Bevölkerung (2), die teilweise Leistungen des Gesundheitswesens in Anspruch nahm (3). ­Diese Infektionsdaten wurden durch die Wissenschaft erhoben und als Inzidenzkurven an die Politik vermittelt (4), die am kulturellen Wert des Schutzes der Menschenleben orientiert (5), Regularien entschied und über ­Massenmedien kommunizierte (6), und staatlich anordnete (7), was über verschiedene Behörden implementiert wurde (8), mit der Folge veränderten Verhaltens der Bevölkerung gegenüber der möglichen ­Virusexposition (9).

Die genannten Systemkomponenten lassen sich ebenfalls als Systeme auffassen (Politik: Regierung, Parlament, Parteien), die jeweils spezifische Eigendynamiken und Kontexte (Wirtschaft, Recht etc.) aufweisen.

Es ist sicher vieles gut gelaufen im Corona-­Management. Das Modell lässt allerdings sofort eine kritische Systemdiagnose stellen, mit vielerlei Schwachpunkten (Vulnerabilitäten), die an den Inzidenzkurven erkennbar zu Übersteuerungen und Untersteuerungen führten, die vermieden werden könnten. Hier wird auf die Wissenschaft fokussiert, denn sie muss (a) die Unsicherheit ihrer Erkenntnisse selbst besser akzeptieren und auch kommunizieren [1], b) mehr interdisziplinäre Wissensintegration leisten [2], (c) den Theoriehintergrund als die Daten verbindender und auch verständlicher Rahmen ausarbeiten [3, 4, 5].


Abbildung 1: Der große Regelkreis des Corona-Managements: Vom Virus zum Virus. Eigenlogiken (gestrichelte Linien) und Kontexte verstärken die Fluktuationen der Inzidenzzahlen (siehe Text).

3. Schwachstellen-Analyse und Verbesserungsoptionen

Auf die einzelne Systemkomponenten des Regelkreises bezogen lassen sich nun einige Anregungen formulieren:

1. Die Verbesserung der Vorhersage und Einschätzung der Infektiosität und Letalität von Virusmutanten sollte dringend Gegenstand künftiger Forschungen sein. Prophylaxemöglichkeiten jenseits von spezifischen und suffizienten Impfungen müssten verstärkt werden.

2. Verschiedene Bevölkerungsgruppen, nach Schichten und Milieus differenzierbar, hatten unterschiedlichen Anteil an der Pandemie­dynamik, waren kommunikativ oft nicht erreichbar und verhielten sich nicht adhärent. Das wäre sozialwissenschaftlich aufzuklären.

3. Das Gesundheitswesen zeigt weiterhin versorgungsorganisatorische Schwachstellen, etwa was die prästationäre Versorgung COVID-Kranker betrifft. Dies erfordert strukturelle, personelle und finanzielle Nachbesserungen.

4. Die Wissenschaft ist einseitig auf die Labor­wissenschaften fokussiert, die klinischen Fächer, die mit den Patientinnen und Patienten zu tun haben, kommen zu wenig zu Wort. Problematische Fachüberschreitungen traten auf, etwa, wenn – teilweise außermedizinische – Laborexperten Hygieneempfehlungen für den Alltag gaben. Die Bevorzugung der Grundlagenforschung gegenüber der klinischen Forschung, der Bevölkerung gegenüber den einzelnen Patienten und der Prävention gegenüber der Kuration und Rehabilitation ist in diesem Ausmaß beispiellos. Anschluss an andere Disziplinen wie Psychologie, Soziologie, Pädagogik und Ökonomik wären erforderlich, um der Lebenswelt der Bürger stärker gerecht zu werden.

5. Die Politik zeigte bisher wenig organisatorische Fantasie, etwa was die Einrichtung interministerieller Arbeitsgruppen und vor allem die zuhörende Kommunikation mit den ausführenden Behörden betrifft. Die Ausrichtung am kulturellen Wert Gesundheit wurde eine Zeit lang den Zielbereichen Wirtschaft, Bildung und Freiheitsrechten vorgeordnet. Wissenschaftliche bzw. beratende Gremien müssen mit Vertretern verschiedener Meinungen und Positionen, verschiedener Fächer und Spezialisierungen besetzt werden, um einen fruchtbaren Diskurs und Erkenntnisgewinn zu ermöglichen. Die Politik müsste auch ihr Sensorium schärfen und könnte über Bürgerforen die „Bottom-up-Kommunikation“, gerade durch die Digitalisierung, fördern [6].

6. Die Maßnahmen werden in den Medien teilweise schwer verständlich vermittelt. Widersprüchliche und unrelativierte Narrative führten mittelfristig zu geringer Adhärenz, zu Misstrauen und Ablehnung der Politik und der Wissenschaft. Platz für Kritik sollte daher geschaffen werden, „message-control“ und „cancel-culture“ sind demokratiepolitisch nicht vertretbar. Es fehlt ein Erklärungsrahmen für die Zahlen und Maßnahmen, den als „Theorie“ auch die Wissenschaft nicht einbrachte. Die Wissenschaftsredaktionen müssten gestärkt werden und die Wissenschaftskommunikation und -didaktik muss verbessert werden. Ein fundierter kommunikationswissenschaftlicher Ansatz müsste daher einbezogen werden. 

7. Die staatlichen Organe zeigten eine verständliche Latenz in der Umsetzung der Politikziele, teil- und zeitweise wurden Vorschriften allerdings ohne humanes Augenmaß umgesetzt.

8. Die öffentliche Verwaltung als Exekutive müsste trotz „Distancing“ bürgernäher sein und im Dialog stehen. Vor allem Gesundheits­behörden und Amtsärzte sowie Info-Telefone, Test- und Impfzentren könnten so den Public Health-Auftrag besser umsetzen.

9. Das Verhalten der Bevölkerung ist nun das Resultat der Kaskade der oft unkoordinierten „On‘s“ und „Off‘s“ der einmal pauschalen, dann wieder elektiven wissenschaftlichen und politischen Empfehlungen des Masken-Tragens, der Testungen, der Quarantäne der Test-Positiven, der Lockdowns, der Impf­gebote, usw.

 Der Nutzen eines an einem derartigen systemischen Denkrahmen orientierten Denkens und Handelns könnte sein, dass das Verhalten der Bevölkerung gegenüber dem Virus und seinen Varianten verbessert wird, denn das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

4. Fazit

Der Sommer 2022 könnte endlich für ein derartiges systemorientiertes Nachdenken gut genutzt werden, damit wir alle – gesamtgesellschaftlich gedacht – vor der Winterwelle, deren viralen Treiber wir noch nicht kennen, besser aufgestellt sind und die Pluralität der Sichtweisen besser verbinden können.

Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Autoren

Professor Dr. Dr. phil. Dr. rer. pol. Felix Tretter
Bertalanffy Center for the Study of Systems Science, Wien

Dr. Marc Batschkus
Archiware GmbH, München

Professor Dr. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Dieter Adam
ehem. Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München

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