Der „interessante Fall“ aus der Gutachterstelle

Fehler ohne Schaden, Pneumothorax im Zusammenhang mit einer Testinfiltration

Folge 8: Fehler ohne Schaden, Pneumothorax im Zusammenhang mit einer Testinfiltration

Die Gutachterstelle für Arzthaftungsfragen bei der Bayerischen Landesärzte­kammer (BLÄK) möchte anhand ausgewählter, anonymisierter Fallbeispiele ­Kolleginnen und Kollegen für bestimmte klinische Themen sensibilisieren und ­somit in ihrer täglichen Arbeit unterstützen.

In dem hier vorgestellten Fall ist einem Arzt ein „Diagnosefehler“ unterlaufen. Der Fehler wurde von der Gutachterstelle darin gesehen, dass der behandelnde Arzt bei einem invasiven Eingriff, an eine damit verbundene mögliche Komplikation nicht dachte und die vorliegenden klinischen Befunde nicht richtig gedeutet hatte. Dieser Fehler war aber letztlich nicht ursächlich für einen Schaden. Daher führt nicht jeder Fehler zwangsläufig dazu, dass ein Arzt Schadensersatz zu leisten hat.

Medizinischer Sachverhalt

Ein 20-jähriger Patient stellte sich wegen seit zwei Wochen bestehender linksthorakaler Schmerzen, die sich bei tiefer Inspiration und Bewegung verstärkten, bei seinem niedergelassenen Orthopäden vor. Bei der klinischen Untersuchung gab der Patient einen lokalen Druckschmerz unterhalb der Brustwarze an. Der Orthopäde stellte den Verdacht auf eine Blockade der Brustwirbelsäule (BWS) bzw. eine Interkostalneuralgie und injizierte drei Testinfiltrationen mit dem Lokalanästhetikum Carbostesin im Bereich der 6. Rippe links. Anschließend ließ er in seiner Praxis zur weiteren diagnostischen Abklärung eine Röntgenaufnahme des linken Hemithorax anfertigen. In der Bildgebung fand sich kein Hinweis für eine knöcherne Verletzung, wie etwa eine Rippenfraktur oder eine sonstige Pathologie als Schmerzursache. Danach führte der Arzt noch eine Mobilisierung der BWS mit einem Probezug durch. Nachdem die therapeutischen Maßnahmen des Orthopäden zu keiner Besserung der Beschwerden führten, der Patient vielmehr zusätzlich über Atembeschwerden klagte, wurde er mit der Empfehlung aus der ambulanten Behandlung entlassen, sich zeitnah – möglichst noch am gleichen Tag – zum Ausschluss einer intrathorakalen Ursache der Beschwerden bei einem Internisten vorzustellen. Als der Patient bald darauf zunehmende Atemnot und stechende Schmerzen im gesamten Oberkörper entwickelte, begab er sich in die Notaufnahme einer nahegelegenen Klinik. Eine dort angefertigte weitere Röntgenaufnahme zeigte einen ca. 5 cm breiten Pneumothorax. Es erfolgte die umgehende Anlage einer Bülau-Drainage links.

Vorwurf

Der Patient ist der Ansicht, dass der ihn behandelnde Orthopäde den in der Notaufnahme des Klinikums festgestellten Pneumothorax durch seinen Eingriff fehlerhaft verursacht hat. Er habe schon in der orthopädischen Praxis nach der Testinfiltration das Gefühl gehabt, nicht mehr richtig durchatmen zu können. Nur sein eigener Entschluss, die Notaufnahme aufzusuchen, habe Schlimmeres verhindert. Zusätzlich bemängelt der Patient, über die interventionelle Maßnahme nicht ausreichend aufgeklärt worden zu sein. Um den Sachverhalt klären zu lassen, wandte er sich an die Gutachterstelle.

Gutachten

Nachdem sich der beschuldigte Arzt und die zuständige Haftpflichtversicherung mit der Durchführung des freiwilligen Gutachterverfahrens einverstanden erklärt hatten, holte die Gutachterstelle ein externes Sachverständigengutachten ein, mit dem geklärt werden sollte, ob die durchgeführte Behandlung dem zu fordernden medizinischen Standard entsprochen hatte.

Zunächst stellte der (externe) Gutachter fest, dass die der Behandlung zugrundeliegenden Verdachtsdiagnosen eines BWS-Syndroms bzw. einer Interkostalneuralgie bei den vorliegenden Befunden nachvollziehbar waren. Auch das differenzialdiagnostische Vorgehen mit parakostaler Testinfiltration und chiropraktischer Maßnahme zum Ausschluss anderer Erkrankungen, wie zum Beispiel einer angesichts des Alters des Patienten eher unwahrscheinlichen kardiologischen Schmerzursache, bewertete er als fachgerecht.

Wie der Pneumothorax entstanden ist, sei nicht mit letzter Sicherheit aufklärbar. Es dränge sich zwar der Verdacht auf, dass der Pneumothorax auf die vorgenommene Testinfiltration zurückzuführen sei. Zu einer solchen Komplikation könne es unter anderem durch einen unvermittelten Hustenstoß oder eine schmerzbedingte Abwehrreaktion des Patienten während der Injektion kommen. Alternativ sei es aber auch möglich, dass es sich um einen vorbestehenden Spontanpneumothorax gehandelt habe. In diese Richtung kann auch das Beschwerdebild, das den Patienten letztlich veranlasst hat, den Orthopäden aufzusuchen, gedeutet werden. Insbesondere das Alter von 20 Jahren sowie das Geschlecht des Patienten lassen dies möglich erscheinen.

Auf der nach der Infiltration durchgeführten Röntgenaufnahme des linken Hemithorax erkannte der Gutachter einen etwa 1,5 cm breiten Luftsaum in der Thoraxkuppel und wertete das Nichterkennen durch den Orthopäden als einen Diagnosefehler.

Bei richtiger Diagnose wäre eine sofortige Einweisung in ein Akutkrankenhaus angezeigt gewesen. Die Frage nach einem durch den Diagnosefehler verursachten Schaden beantwortete der Gutachter dahingehend, dass durch die korrekte Empfehlung des Orthopäden, sich zeitnah von einem Internisten untersuchen zu lassen und die dadurch erfolgte „Verzögerung“ der Diagnosestellung und der notwendigen Therapie (wenn überhaupt) nur ein marginaler Schaden entstanden sei.

Stellungnahme der Kommission

Die für die Entscheidung zuständige Kommission – sie besteht bei der Gutachterstelle bei der BLÄK aus einem Arzt und einem Juristen – war, wie der (externe) Gutachter, der Ansicht, dass die Verletzung der Pleura viszeralis durch die Injektion des Lokalanästhetikums Carbostesin nicht behandlungsfehlerhaft war. Aus den Behandlungsunterlagen ergeben sich keine Anhaltspunkte, die auf eine unsachgemäße Testinfiltration schließen lassen. Da für den angeschuldigten Orthopäden ex ante kein zwingender Verdacht auf einen vorbestehenden Pneumothorax (Spontanpneumothorax) bestand, musste dieser durch eine Röntgenaufnahme vor der Testinfiltration nicht ausgeschlossen werden. Aus der Sicht ex post wäre die vom behandelnden Arzt mit dem Röntgen des linken Hemithorax veranlasste Abklärung der knöchernen Strukturen sinnvollerweise vor den invasiven, nicht zu beanstandenden Testinfiltrationen erfolgt.

Über die mögliche Folge eines Pneumothorax muss bei einer paracostalen Testinfiltration aufgeklärt werden. Aus der Patientendokumentation ergab sich, dass eine Aufklärung durch den behandelnden Orthopäden stattgefunden hat. Über den Inhalt der Aufklärung war der Dokumentation allerdings nichts zu entnehmen. Für die Frage, ob der Patient ordnungsgemäß aufgeklärt wurde, ist das mündliche Aufklärungsgespräch zwischen Arzt und Patienten maßgeblich. Hierüber lagen unterschiedliche Aussagen des Arztes und des Patienten vor. Die Kommission der Gutachterstelle konnte deswegen nicht abschließend dazu Stellung nehmen, ob, wie vom Patienten behauptet, ein Aufklärungsmangel vorliegt.

Genauso wie der (externe) Gutachter hielt die zuständige Kommission der Gutachterstelle es allerdings für fehlerhaft, dass der behandelnde Orthopäde auf der von ihm gefertigten Thorax-Röntgenaufnahme den vorhandenen Befund (Luftsaum in der Thoraxkuppel) nicht erkannt hat. Allerdings war der diagnostische Zweck dieser Aufnahme ein anderer. Das Röntgenbild wurde von dem behandelnden Orthopäden veranlasst, um abzuklären, ob die vom Patienten beschriebenen Beschwerden ihre Ursache in einer Läsion des Bewegungsapparats haben. Trotzdem hätte der behandelnde Arzt, auch wenn er das angefertigte Röntgenbild primär unter diesem Gesichtspunkt befundet hat, auch an die mögliche Komplikation eines Pneumothorax denken müssen. Spätestens, als der Patient über dyspnoeische Beschwerden klagte, hätte er zu der richtigen Diagnose gelangen müssen.

Nichtsdestotrotz war die Kommission genauso wie der (externe) Gutachter der Ansicht, dass der behandelnde Arzt keinen Schadensersatz schuldet. Dieser Diagnosefehler führte zu keinem nachweisbaren Gesundheitsschaden bei dem Patienten. Dadurch, dass der Patient sich selbst wenige Zeit später in der Notaufnahme vorgestellt hat, war die medizinisch indizierte Anlage einer Bülau-Drainage erfolgt. Der Diagnosefehler des Arztes blieb hier also ohne nachweisbaren Gesundheitsschaden. Dass er ohne Folgen geblieben ist, weil der Patient und nicht der Arzt rasch gehandelt hat, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.

„Diagnosefehler“ und „Diagnoseirrtum“

Unspezifische oder mehrdeutige Symptome bzw. Variationen im Krankheitsverlauf eines Patienten führen dazu, dass sich der behandelnde Arzt im Einzelfall erst an die richtige Diagnose „herantasten“ muss. In dem hier vorgestellten Fall hat zum Beispiel der behandelnde ­Orthopäde durch Ausschlussdiagnostik versucht, sich mehr Klarheit über die Ursachen der Beschwerden des Patienten zu verschaffen. Weil es im Einzelfall sehr schwierig sein kann, „ex ante“ zur richtigen Diagnose zu gelangen, ist auch nach der Rechtsprechung nicht jede Diagnose, die sich „ex post“ als unrichtig herausstellt, ein Diagnose- und damit auch ein Behandlungsfehler. Dem Arzt wird also bei der Diagnosestellung auch das „Recht“ eingeräumt, sich zu irren. Eine falsche Diagnose wird nur dann zum Behandlungsfehler, wenn sie eine nicht mehr vertretbare Fehlleistung darstellt, weil zum Beispiel Symptome vorliegen, die für eine bestimmte Erkrankung kennzeichnend sind.

Verfahren bei der Gutachterstelle für Arzthaftungsfragen

Durch ihre abschließende Stellungnahme will die Gutachterstelle dem Patienten, aber auch dem Arzt einen Hinweis geben, wie ein Richter bei einem Arzthaftungsprozess entscheiden wird. Hierdurch soll eine außergerichtliche Einigung zwischen dem Patienten und dem Arzt auf der einen und seiner Berufshaftpflichtversicherung auf der anderen Seite gefördert werden. Wie bei einem Arzthaftungsprozess auch, bilden bei einem Gutachterverfahren die Behandlungsunterlagen „das“ Beweismittel, anhand dessen beurteilt wird, ob der Arzt einen Behandlungsfehler begangen hat. Bei einem Zivilverfahren können daneben auch Zeugen vernommen werden, um „Lücken im Sachverhalt“ zu schließen. Dies kann die Gutachterstelle nicht. Das Verfahren sieht nicht vor, dass die Gutachterstelle Zeugen vernimmt. Dies hat seinen guten Grund. Die Gutachterstelle hat nicht die rechtlichen Möglichkeiten, eine Zeugenaussage zu erzwingen. Ob einem Zeugen geglaubt werden kann, hängt darüber hinaus von der individuellen Bewertung desjenigen ab, der den Zeugen vernimmt. Eine solche Bewertung kann von der Gutachterstelle völlig anders vorgenommen werden als von dem Richter in einem Arzthaftungsprozess.

Autoren

Professor Dr. Ekkehard Pratschke
Alban Braun
Dr. Sabine Grill

alle Gutachterstelle für Arzthaftungsfragen bei der BLÄK

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