Diagnosis reloaded
Manche Patienten laufen jahrelang von „Pontius zu Pilatus“, bis sie die richtige Diagnose erhalten. Eine gründliche Anamnese und ausgefeilte Labordiagnostik können helfen, seltene und unerkannte Krankheiten aufzudecken, keine Frage. Doch immer wieder treten unbefriedigende Behandlungssituationen auf, in denen keine eindeutige Diagnose gestellt werden kann und Therapieansätze erfolglos bleiben. Betroffene Patienten (und Ärzte) wenden sich dann gerne an die Medien (vgl. „Süddeutsche Zeitung“, 10.1.2018 „Blutsbande“ von Christina Berndt/Stefan Braun) oder stellen gar unser gesamtes Gesundheitssystem infrage. Grund genug für das „Bayerische Ärzteblatt“, zu einem Redaktionsgespräch mit dem Titel „Diagnosis reloaded“, die Gesprächsteilnehmer Professor Dr. Thomas Graf von Arnim, ehemaliger Ärztlicher Direktor des Rotkreuzklinikums München und niedergelassener Internist in München, Professor Dr. Thomas Kühlein, Lehrstuhl für Allgemeinmedizin an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg und Ärztlicher Leiter des MVZ-Eckental sowie Dr. Siegmund Braun, ehemals Institut für Laboratoriumsmedizin, Deutsches Herzzentrum München, einzuladen.
Unsere Eingangsfragen – so banal: Gibt es in Deutschland verlässliche Tests? Was heißt heutzutage Diagnoseerstellung? Einig waren sich die drei Gesprächspartner, dass jeder Arzt wohl sofort an Herzinfarkt oder Gallenkolik denkt, aber, beispielsweise seltene Erkrankungen, wie Bilharziose oder Morbus XYZ, sähen die meisten Niedergelassenen und Klinikärzte außerhalb des universitären Kontexts sehr selten und hätten diese deshalb nicht gleich im Blick. Das ist nicht nur normal, sondern auch richtig: als Lehrsatz für die Studenten gilt „When you hear hoofbeats, think of horses not zebras“, denn der Arzt, der als erstes an Zebras und Kolibris denkt, macht etwas falsch. Die Konsequenz: Viele Patienten mit seltenen Erkrankungen warteten mehrere Jahre auf eine Diagnose bzw. erhielten Fehldiagnosen. Um dies zu vermeiden, seien Strategien zur Diagnosefindung: richtig hinzuschauen, wahrzunehmen, zu fühlen, die körperliche Untersuchung und natürlich das Gespräch. Nicht immer nütze dabei ein hochmodernes Labor. Trotz unseres Bekenntnisses zur Hightechmedizin seien letztendlich die gründliche Anamnese und die körperliche Untersuchung der Schlüssel zum Erfolg. Für viele Leiden gebe es jedoch keine Erklärung und keine Diagnose im ICD-10-System. Das Phänomen heiße einfach oft „Materialermüdung“, degenerativer Prozess oder Alter, wie die Experten aus ihrer jahrelangen Praxis berichten.
Von Arnim gab sich überzeugt, dass die Labortests hierzulande sehr verlässlich seien. Vielmehr komme es auf die Verantwortung des Arztes an, die richtige Diagnostik einzusetzen und die Laborergebnisse dann auch individuell zu interpretieren. Kühlein verglich Diagnosen mit „Schubladensystemen“, denen man als Arzt ähnliche, aber eben nicht ganz gleiche Krankheitsbilder zuordne. Grenzfälle gebe es immer. Generell gehe es bei dem Thema eher um eine Risikoabwägung, was Kühleins Meinung nach noch viel zu wenig an den Universitäten gelehrt werde. Man lasse der Ungewissheit nicht genügend Raum. An dieser Stelle brachte sich Braun mit einem Plädoyer für die Validität des Gros der Labortests ein. Sicher stellten einige Spezialtests, im Rahmen der Diagnostik seltener Erkrankungen, eine Ausnahme dar. Diese hätten jedoch keine Breitenwirkung, was auch in der Fachliteratur bekannt sei. Wichtig war es Braun zu betonen, dass gerade die Indikationsstellung für einen Test und dann die Interpretation der Ergebnisse, die herausragenden ärztlichen Leistungen seien. Bei der Bewertung eines Ergebnisses ist der sogenannte „Normalbereich“ nicht immer zielführend und sollte kritisch betrachtet werden.
Von Arnim betonte nochmals die hohe Verantwortung sowohl der Forscher bei der Neuentwicklung von Tests als auch der Anwender. Man müsse auch mit einer gewissen Unsicherheit leben können und auf die Funktionalität und die Kontrollen in unserem System vertrauen. Funktioniere es dann einmal nicht, heiße es sofort „Skandal“ und werde „medial breitgetreten“. Auch Kühlein griff den Begriff des Vertrauens auf und beklagte eine Tendenz, einzelne Messwerte gleich für Wahrheit und Wirklichkeit zu halten. Normwerte im Sinne einer Industrienorm gebe es nicht. Es sei Aufgabe der Ärzte, ein „Gefühl für die tatsächliche Bedeutung von Normwertüberschreitungen“ zu entwickeln und Nutzen und Schaden für den Patienten abzuwägen. „Ein Test alleine kann keine Diagnose bringen – ungezieltes Testen kostet nicht nur viel Geld, sondern stellt auch keine Hilfe für die Patienten dar – im Gegenteil“, so der Allgemeinarzt aus Erlangen. Zudem seien in den vergangenen Jahren eine gewisse Voreingenommenheit und ein gewisses Misstrauen gegenüber der Ärzteschaft in der Gesellschaft gewachsen, pflichtete ihm von Arnim bei. Dennoch seien immer feinere und speziellere Tests auch eine große Hilfe, warf Braun in die Runde. Man stehe vor Labor-Möglichkeiten, wie beispielsweise der „Companion Diagnostics“, die noch vor wenigen Jahren undenkbar waren. Ein „Companion Diagnostics-Test“ sei ein medizinisches Produkt, das in kontrollierten klinischen Studien validiert wurde und ausschlaggebend für die Behandlungsentscheidung mit einem spezifischen Pharmazeutikum sei. In der klinischen Praxis angewandt könne der Test somit das Nutzen-Risiko-Verhältnis (Benefit-Risk-Ratio) der Behandlung verbessern, was nichts anderes als „personalisierte Diagnostik“ bedeute. Hinzu komme noch die Datenverarbeitung der neuen Testreihen. Man stehe hier wirklich noch ganz am Anfang einer großen Entwicklung. Patienten mit einem identischen Krankheitsbild sprächen auf die Behandlung mit dem gleichen Arzneimittel eben unterschiedlich an. Bei einer Krebsart könnten mehr als ein Dutzend Genmutationen eine Rolle spielen.
Was tun? Letztendlich seien es „Filterprozesse“, die noch viel stärker in der Aus- und Weiterbildung vermittelt werden müssten. Bei niedriger Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Krankheit könne man diese auch mit einfachen Mitteln ausschließen. Auch die ökonomischen Aspekte der Diagnostika blieben beim Redaktionsgespräch nicht außen vor. „Wir verlangen von einem Industrieunternehmen, das beispielsweise Labortests herstellt, nur insofern moralisches Handeln, als es keine Gesetze übertreten darf“, warf Kühlein ein. „Wir wissen längst, Stichwort ‚gaming the system‘, dass die Industrie mächtiger und cleverer ist als unsere Regulationsmechanismen. Anders als beim Arzt, wo der Ethikanspruch extrem hoch ist“, so der Allgemeinarzt. „Dennoch gibt es grundsätzliche Richtlinien und ‚Gebrauchsanweisungen‘, die Aussagen beinhalten müssen, über die Validität, die Sensitivität oder Spezifität dieser oder jener Tests“, sagte Braun. Diese beruhten auf der Basis von Zahlen, die eventuell zu gering sei. „Ich muss auf jeden Fall die Wertigkeit der Tests kennen, die ich anwende – auch dem Patienten gegenüber“, so der Münchner Labormediziner. Von Arnim forderte, dass die Sinnhaftigkeit von Tests und Vorsorgemaßnahmen laufend überprüft werden müsse, um diese womöglich zu verbessern oder um Fehlverhalten zu stoppen. Doch Patienten kämen mit dem Anspruch: „Helfen Sie mir! Machen Sie das weg!“ Diesen Konflikt müsse der Arzt aushalten. „Vieles liegt in der ärztlichen Selbstkontrolle“, gab Braun zu bedenken. In den wissenschaftlichen Journals seien die Industrieeinflüsse auf Studien und Leitlinien bestens dokumentiert.
Über den Umgang mit Diagnostika und Wege zur richtigen Diagnose wird weiter diskutiert werden müssen. „Sie brauchen Interesse und eine gewisse Hartnäckigkeit, um nach (seltenen) Krankheitsbildern aktiv zu suchen. Testverfahren sind dabei ganz wichtig. Wir Ärzte und unsere Patienten haben die Herausforderung, mit dem Risiko und der Ungewissheit umzugehen. Aber das wichtigste Hilfsmittel ist die Zeit“, so von Arnim abschließend.
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