Drei Highlights aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Kinder- und Jugendpsychiatrie

Psychische Störungen genießen heute im Spektrum der Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen eine wesentlich größere Aufmerksamkeit als noch vor einiger Zeit. Das liegt nicht nur an einer Zunahme bestimmter Krankheitsbilder, sondern – erfreulicherweise – auch an der gewachsenen gesellschaftlichen Achtsamkeit gegenüber diesen Phänomenen. Drei Fälle aus dem klinischen Alltag einer großen kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsklinik sollen den Blick schärfen für die Vielfalt und Komplexität psychischer Störungsmuster im Entwicklungsalter. In der ersten Kasuistik wird ein klassischer Notfall und seine anschließende Behandlung skizziert, wie wir ihm tagtäglich begegnen. Im zweiten Fallbeispiel geht es um den interessanten Langzeitverlauf eines jungen Patienten aus unserer Ambulanz für Entwicklungsstörungen. Der dritte Fall eines psychisch schwer erkrankten Mädchens soll schließlich auch verdeutlichen, dass manchmal erst der Störungsverlauf eine diagnostische Zuordnung von primär unspezifischen psychopathologischen Auffälligkeiten erlaubt.

Fall 1 – Notfall mit depressiver Störung und akuter Suizidalität

Anna*, eine 15-jährige Realschülerin, wurde am späteren Abend im Krankenwagen und in Polizeibegleitung zur Abklärung einer akuten Eigengefährdung in das kbo-Heckscher-Klinikum gebracht. Etliche Stunden zuvor war Anna von zu Hause weggelaufen, die Mutter hatte einen Abschiedsbrief ihrer Tochter in deren Zimmer vorgefunden. Die hinzugezogene Polizei hatte das weinende Mädchen in der Nähe einer Eisenbahnbrücke gefunden. Sie hatte sich tiefere Schnittverletzungen am linken Handgelenk zugefügt, die vor der Vorstellung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie chirurgisch mit Steri-Strips versorgt worden waren. Die getrennt lebenden Eltern der Schülerin kamen zur Notfallambulanz hinzu, Anna verweigerte aber den Kontakt zu ihnen.
Anna, ein zierliches, dunkel gekleidetes Mädchen, war verweint, angespannt, wirkte verzweifelt, in sich gekehrt und nahm kaum Blickkontakt auf. Bei der orientierenden Erstuntersuchung fielen neben dem Verband am linken Handgelenk auch ältere Ritzverletzungen an den Armen auf. In ihrer Tasche hatte Anna Rasierklingen bei sich. Im Einzelgespräch mit der Dienstärztin bestätigte sie Suizidgedanken mit zuletzt konkreten Umsetzungsplänen. Sie habe überlegt, von einer Brücke zu springen oder sich die Pulsadern aufzuschneiden. Anna berichtete, dass sie sich seit Monaten mit einer Rasierklinge Schnittverletzungen an Armen und Oberschenkeln zufüge, was sie entlastend erlebe, wenn es ihr schlecht gehe. Anna äußerte sich hoffnungslos, sah keinen Sinn mehr in ihrem Leben. Beide Eltern zeigten sich erschrocken, sie hatten Anna zwar zurückgezogener erlebt, aber keine ernsthafteren Probleme vermutet. Sie stimmten einer von uns angeratenen Aufnahme auf eine unserer geschützten Akutstationen zu. Anna schien dadurch etwas entlastet, blieb aber aufgrund ihrer Verschlossenheit schwer einschätzbar. Die Unterbringung Annas auf der geschützten Station erfolgte mit familienrichterlicher Genehmigung nach § 1631b Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), basierend auf dem Einverständnis der sorgeberechtigten Eltern.

Beurteilung von Suizidalität – eine besondere Herausforderung für die Kinder- und Jugendpsychiatrie

Anna ist eine von vielen Jugendlichen, die zur Abklärung einer akuten Eigengefährdung in der Notfallambulanz vorgestellt wurden. Das kbo-Heckscher-Klinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie hat den Versorgungsauftrag für kinder- und jugendpsychiatrische Notfälle aus ganz Oberbayern. Im Münchner Haupthaus steht ein Dienstarzt rund um die Uhr zur Verfügung und kann im besonderen Gefährdungsfall Patienten auf eine der drei geschützten Stationen aufnehmen. Im Jugendalter steigt die Häufigkeit suizidalen Verhaltens. Der Suizid ist bei den 15- bis 25-Jährigen in Deutschland die zweithäufigste Todesursache nach Unfällen. Suizidgedanken wie auch Suizidversuche werden zwei- bis viermal öfter bei Mädchen als bei Jungen berichtet, vollendete Sui­zide kommen häufiger bei männlichen Jugendlichen vor [1, 2]. Psychische Störungen, wie zum Beispiel depressive Störungen, Angsterkrankungen und Suchtmittelmissbrauch, sind mit einem erhöhten Suizidrisiko verbunden [3]. Weitere Risikofaktoren sind unter anderem häufige Streitigkeiten und Trennung der Eltern, Verlust eines Elternteils oder eine Vorgeschichte sexuellen Missbrauchs/Misshandlungen [4]. Selbstverletzendes Verhalten wie Ritzen ist nicht mit suizidalem Verhalten gleichzusetzen, insbesondere mit zunehmender Häufigkeit der Handlungen stellt es aber einen Risikofaktor für das Auftreten von späteren Suizidversuchen dar [5]. Suizidäußerungen bei Kindern und Jugendlichen sind immer ernst zu nehmen, eine mögliche Gefährdung sollte offen angesprochen werden. Die Klinikaufnahme auf einer geschlossenen Station ermöglicht es, suizidale Kinder und Jugendliche vor weiterer Selbstgefährdung zu schützen. Im Behandlungsverlauf werden die Entstehungsbedingungen der Suizidalität, das eventuelle Vorliegen weiterer Störungen und aufrechterhaltender Bedingungen abgeklärt. Außerdem geht es um die Entwicklung geeigneter Problemlösemöglichkeiten und einer Zukunftsorientierung.


Tabelle 1: Hinweise für eine akute Suizidgefahr [6].

Behandlung, Ursachenklärung und Perspektivenplanung

Anna musste auf der geschlossenen Station in den ersten Tagen vom Pflege- und Erziehungsdienst kontinuierlich eng überwacht werden. Sie beschäftigte sich anfangs noch stark mit Suizidgedanken, suchte auch auf der Station nach Möglichkeiten, sich selbst zu verletzen. Mit ihrem Einverständnis und dem der Eltern erhielt Anna vorübergehend abends Melperon aus der Klasse der Butyrophenone, ein niederpotentes Neuroleptikum, in niedriger Dosierung, worunter sie besser einschlafen konnte. Nach einigen Tagen konnte die Überwachung schrittweise gelockert werden, Anna erlebte sich stabiler und zeigte sich absprachefähig. Sie öffnete sich im Kontakt zu ihrer Ärztin, konnte ihre Belastungen in Worte fassen. Die Teilnahme an der Musiktherapiegruppe half ihr, Zugang zu ihren Gefühlen zu bekommen. Anna erlebte auch den Kontakt zu Gleichaltrigen, die wie sie problematische Situationen kannten, als hilfreich. Wie bei Anna stabilisiert sich bei einer Vielzahl der Patienten das Befinden innerhalb von Tagen bis wenigen Wochen und sie können sich für weitere Hilfe öffnen.
Die Einbeziehung der Eltern bzw. der engen Bezugspersonen eines Kindes oder Jugendlichen trägt wesentlich zur Stabilisierung bei. In Annas Fall wurden familiäre Belastungen deutlich, die Eltern hatten sich vor zwei Jahren getrennt, Mutter und Vater hatten jeweils neue Partner. Der Kontakt zum Vater war dadurch seltener geworden. Anna erlebte ihn distanzierter und weniger an ihr interessiert als früher. Ihre Mutter litt unter eigenen psychischen Problemen und hatte seit einigen Monaten eine, sie stark fordernde, neue Arbeitsstelle. Anna fühlte sich zunehmend alleine und unverstanden. Sie entwickelte eine depressive Symptomatik mit gedrückter Stimmung, Antriebsmangel, sozialem Rückzug und Schlafstörungen. Nachts lag sie oft wach, litt tagsüber unter Müdigkeit, konnte sich in der Schule nicht mehr konzentrieren. Bei nachlassenden Leistungen bekam sie zunehmend Angst, die Klasse nicht zu bestehen und wurde immer hoffnungsloser.


Tabelle 2: Interventionen bei Suizidalität [6].


Beide Eltern konnten im Austausch mit der behandelnden Ärztin ihre familiäre Situation reflektieren und für Anna wieder mehr Verständnis entwickeln. Auch Anna konnte in gemeinsamen Gesprächen auf ihre Eltern zugehen und traute sich mit Unterstützung, auch schwierige Themen anzusprechen. In Besuchen und später auch in Ausgängen nahmen sich die Eltern allein und auch gemeinsam Zeit für Anna. Von akuter Suizidalität konnte das Mädchen sich inzwischen klar distanzieren. Mit schrittweisem Aufbau der Belastungen wurde Annas Entlassung nach Hause vorbereitet. Eine ambulante Psychotherapie, für die sie gut motiviert war, wurde eingeleitet.

Fall 2 – Langzeitverlauf eines Patienten mit einer Autismus-Spektrum-Störung

Anamnese und Symptomatik bei der Erstvorstellung

Gregor* wurde im Alter von drei Jahren zur Abklärung allgemeiner Entwicklungsrückstände in unserer Ambulanz für Entwicklungsstörungen vorgestellt. Nach unauffälliger Schwangerschaft und termingerechter Geburt per sekundärer Sectio habe sich Gregor zunächst gut entwickelt. Im Alter von zehn Monaten hätten die Eltern einen Entwicklungsstillstand bemerkt. Gregor habe weniger Interesse an seiner Umwelt gezeigt, habe oft unbeteiligt gewirkt und sei erst mit knapp 18 Monaten frei gelaufen. Gregor spreche noch keine sinnbezogenen Worte, lautiere gelegentlich, zeige häufig ein schrilles Schreien. Er nehme keinen Kontakt zu anderen Kindern auf, verhalte sich sehr eigengesteuert, reagiere oft nicht auf Ansprache. Er habe Freude an sensorischen Erlebnissen, exploriere vieles mit dem Mund. Gregor interessiere sich kaum für Funktionsspiele, zeige auch wenig Imitationsverhalten. Er betrachte gerne seine Hände, drehe sie vor den Augen hin und her und hantiere häufig mit einer Schnur. Er sei sehr bewegungsfreudig, könne gut klettern und rutschen.

Diagnose Frühkindlicher Autismus mit Intelligenzminderung

In der Autismus-Diagnostik mit dem Autism Diagnostic Observation Schedule (ADOS) sowie dem Elterninterview ADI-R (Diagnostisches Interview für Autismus-Revidiert) zeigten sich deutliche Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion, Kommunikation sowie repetitive Verhaltensweisen, sodass bei Gregor die Diagnose eines frühkindlichen Autismus gestellt wurde. Eine standardisierte Leistungsdiagnostik mit dem SON 2 1/2-7 (ein sprachfreies mehrdimensionales Verfahren zur Bestimmung der Intelligenz bei Vorschulkindern) konnte aufgrund mangelnder Kooperation nicht durchgeführt werden. Gregors kognitive Leistungsfähigkeit war schwer einschätzbar, lag klinisch am ehesten im Bereich einer Intelligenzminderung. Eine somatische Ausschlussdiagnostik einschließlich Stoffwechseldiagnostik, EEG, Pädaudiologie sowie Genetik (einschließlich Ausschluss fragiles X-Syndrom und Mikrodeletionsdiagnostik) hatte bereits in einer Kinderklinik stattgefunden und keinen auffälligen Befund erbracht.

Wechselhafter Behandlungsverlauf mit Verhaltenstherapie, Psychopharmaka und psychosozialer Unterstützung

Gregor wurde im Rahmen regelmäßiger Wiedervorstellungen kinderpsychiatrisch von unserer Klinik betreut. Er besuchte einen Integrationskindergarten, erhielt umfassende Förderung in Form von Logopädie, Ergotherapie, Psychomotorik und Krankengymnastik. Des Weiteren erhielt er ein autismusspezifisches, verhaltenstherapeutisches Intensivtraining nach Applied Behavior Analysis (ABA). Bis zum Alter von sechs Jahren zeigte Gregor keine aktive Sprache. Er wurde in eine Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung eingeschult, besuchte nachmittags eine heilpäda-gogische Tagesstätte und benötigte ganztags Unterstützung durch einen Individualbegleiter. Immer wieder zeigte er Phasen mit autoaggressiven Verhaltensweisen oder unvorhersehbaren Impulsdurchbrüchen. Medikamentöse Behandlungsversuche mit verschiedenen Neuroleptika (Pipamperon, Melperon, Risperidon) zeigten nur mäßigen Erfolg, zudem reagierte er zum Teil mit erheblichen Nebenwirkungen, zum Beispiel einer massiven Gewichtszunahme unter Risperidon. Aufgrund einer schweren Einschlafstörung und fehlendem Ansprechen auf verhaltenstherapeutische Interventionen sowie Melatonin erfolgte ein niedrig dosierter Behandlungsversuch (Einzelheilversuch) mit Levomepromazin (aus der Gruppe der Phenothiazine; 3 Tropfen = 3 mg), der gute Wirkung zeigte. Im weiteren Verlauf zeigte sich bei Gregor eine erhebliche Wesensveränderung mit Teilnahmslosigkeit, Unruhezuständen, sehr häufigem schrillen Schreien, Appetitmangel und einem Gewichtsverlust von 6 kg innerhalb weniger Wochen. Sämtliche Untersuchungen einschließlich EEG und kranialem MRT zeigten einen unauffälligen Befund. Aufgrund eines sich zusätzlich entwickelnden Torticollis wurde letztlich, trotz der bereits mehrmonatigen und extrem niedrig dosierten Gabe von Levomepromazin, ein Zusammenhang im Sinne extrapyramidal-motorischer Nebenwirkungen in Form von Frühdyskinesien mit Muskelkrämpfen im Kopf-Hals-Bereich vermutet und die Medikation abgesetzt. Bereits nach wenigen Tagen zeigte sich eine rückläufige Symptomatik.
Mit zwölf Jahren erlitt Gregor erstmalig einen tonisch-klonischen Krampfanfall und es erfolgte eine Einstellung auf das Antiepileptikum Valproat, das zu einem Sistieren der Anfälle sowie einer deutlichen emotionalen Stabilisierung führte. Während eines einjährigen Aufenthaltes mit seiner Familie im Ausland wurde Gregor von den Kollegen dort vorübergehend auf Clonidin zur Verbesserung der Impulskontrolle sowie das Antihistaminikum Diphenhydramin zur Behandlung der Einschlafstörung eingestellt. Nach Rückkehr nach Deutschland zeigte sich aufgrund einer mangelnden personellen Besetzung in der Schule eine unbefriedigende schulische Situation. Gregor verbrachte den Vormittag oft schlafend im Klassennebenraum und gewöhnte sich an einen umgekehrten Tag-Nacht-Rhythmus. Erneutes autoaggressives Verhalten besserte sich unter einer medikamentösen Einstellung auf Zuclopenthixol (aus der Gruppe der Thioxanthene zur Behandlung von Psychosen).
Um dem mittlerweile 15-jährigen Jugendlichen eine geeignete pädagogische und therapeutische Förderung zukommen zu lassen, wurde der Familie zu einer stationären Unterbringung in einer nahe gelegenen Fördereinrichtung geraten. Gregor hat sich in seine Wohngruppe mittlerweile gut eingewöhnt, hat weiterhin eine gute und sichere Bindung an seine sehr engagierte und emotional zugewandte Familie, einen stabilen Schlaf-Wach-Rhythmus, ist problemlos beschulbar, zeigt kein autoaggressives Verhalten und macht erste kleine Fortschritte im Alltag. Er kommuniziert zum Beispiel seine Bedürfnisse besser, hält sich zunehmend an Zimmerzeiten, signalisiert Interesse an kurzen Beschäftigungsangeboten und toleriert Kontaktangebote von Mitbewohnern. Die psychiatrische Betreuung erfolgt weiterhin durch unsere Klinik, jetzt durch den mobilen ärztlichen Dienst, der Gregor regelmäßig in der Einrichtung aufsucht und die dortigen Betreuer sowie die Eltern berät.


Abbildung 1: Häufige Komorbiditäten bei frühkindlichem Autismus und Intelligenzminderung.


Dieser Fall zeigt exemplarisch viele Schwierigkeiten eines Kindes mit einem frühkindlichen Autismus und zusätzlicher Intelligenzminderung (Abbildung 1). Komorbid bestehen häufig autoaggressives Verhalten und aggressive Impulsdurchbrüche [7]. Für Eltern oft belastend ist, dass bei Symptomverschlechterungen schnell Rückschlüsse von Dritten auf einen ungünstigen Erziehungsstil gezogen und hirnorganische Zusammenhänge, somatische Ursachen (zum Beispiel Zahnschmerzen, erhöhter Hirndruck, Medikamentennebenwirkungen etc.) sowie eine akribische Analyse möglicher Stressoren (zum Beispiel kleine Veränderungen in der Schule, Tagesstätte, zu Hause, Überforderungssituationen etc.) vernachlässigt werden. Neben therapeutischen Interventionen sowie stützenden Faktoren (zum Beispiel Schulbegleiter, Rückzugszeiten, TEACCH („Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children“-Strukturvorgaben etc.) besteht häufig zusätzlich die Notwendigkeit einer medikamentösen Einstellung. Zur Behandlung aggressiver Verhaltensweisen werden in der Fachliteratur Risperidon und Zuclopenthixol sowie Valproinsäure empfohlen [7]. Bei der Mehrheit aller autistischen Kinder treten zudem Schlafstörungen auf [8]. Häufig sprechen sie gut auf eine Behandlung mit Melatonin an [9]. Eine komorbide Epilepsie besteht bei bis zu 30 Prozent aller Kinder mit der Diagnose Autismus [10]. Manche Kinder, wie der hier beschriebene Junge, nehmen kaum Kontakt mit ihrer Umwelt auf, imponieren kognitiv sehr eingeschränkt und überraschen durch Fähigkeiten, die man ihnen zunächst nicht zugetraut hätte (Abbildung 2).


Abbildung 2: „Samstag ist Papa aus Indien zurückgekommen. Ich habe mich gefreut“. Gregor hat erst im Grundschulalter begonnen zu sprechen. Er nimmt wenig Kontakt auf, wirkt kognitiv für Außenstehende sehr eingeschränkt und verwendet Sprache kaum zur Kommunikation. Gregor kann lesen, schreiben und englische Lieder singen.

Fall 3 – Jugendliche mit anorektischem und katatonem Syndrom

Vorgeschichte

Melanie*, eine 17-jährige Mittelschülerin, war mit 15 Jahren erstmals wegen starken Untergewichts in einer Kinderklinik stationär. Das jugendpsychiatrische Konsil beschrieb eine in die frühe Kindheit zurückreichende Essproblematik mit Verweigerung der Nahrungsaufnahme außerhalb des häuslichen Rahmens sowie Nahrungskarenz in jeglichen Anspannungs- und Anforderungssituationen. Im Kontext schulischer Leistungsprobleme kam es zu einer erheblichen Gewichtsabnahme sowie einer depressiven Verstimmung. Unter der Verdachtsdiagnose einer atypischen Anorexia nervosa wurde eine stationäre kinderpsychosomatische Behandlung initiiert, von der Familie jedoch zeitnah abgebrochen. Nach einem Jahr kam es im Kontext schulischer Belastung neuerlich zur Verschlechterung des Essverhaltens mit dramatischem Gewichtsverlust. Der Ernährungszustand (BMI 12,8) machte eine kinderklinische Aufnahme erforderlich. Nach somatischer Stabilisierung unter der diagnostischen Etikettierung eines anorektischen Rezidivs erfolgte eine Übernahme in eine kinderpsychosomatische Klinik. Ängstlichkeit, motorische Verlangsamung, Antriebslosigkeit mit massiver Einschränkung der sprachlichen Kontaktaufnahme wurden beschrieben, was mit der Kachexie und einer depressiv-torpiden affektiven Verfassung bei einer weitgehend fehlenden Krankheitseinsicht in Zusammenhang gebracht wurde. Die Patientin bedurfte erheblicher Hilfestellung bei alltäglichen Verrichtungen, eine selbstständige Nahrungsaufnahme war nur unter engster Begleitung möglich, eine Sondierung wurde erwogen. Die im Vorfeld durchgeführte umfangreiche somatische Diagnostik (Labor, EKG, EEG, Herzecho, MRT des Schädels) hatte über Folgen der Malnutrition hinausgehend (unter anderem low-T3, Bradykardie) keine pathologischen Befunde aufgezeigt.

Somatische und psychopathologische Befunde in der psychiatrischen Klinik

Bei Aufnahme in der Jugendpsychiatrie ergab der somatisch-neurologische Befund eine 17 Jahre alte Jugendliche in deutlich reduziertem Allgemein- und Ernährungszustand, KL 167 cm (50.P.), KG 34,2 kg (> 3.P.), BMI 12,5, HF 56 bpm, RR bds. 110/70 mm/Hg. Lanugobehaarung am Rücken, sekundäre Amenorrhoe seit etwa sechs Monaten. Sonstiger somatischer Status im Rahmen des Ernährungszustandes unauffällig. Bei verlangsamtem Bewegungsablauf keine fokal-neurologischen Auffälligkeiten. Feinmotorik und Koordination verlangsamt, teilweise manieriert. 
Psychopathologisch war die deutlich jünger wirkende Patientin bewusstseinsklar und – soweit explorierbar – in sämtlichen Qualitäten voll orientiert. Deutlich verlangsamter Bewegungsablauf, hypomim, flüchtiger Blickkontakt, motorische Stereotypien mit repetitiven Schrittfolgen, situativ unangemessenes Umhersehen und Stehen im Raum. Abschnittsweise mutistisch, ansonsten lange Antwortlatenzen. Antworten von lakonischer Kürze, meist Ein-Wort-Satz-Antworten. Auffällige Sprachmelodie. Periorale Parakinesen, punktuell Grimassieren. Affektiv indifferent, intermittierend kurzes parathymes Grinsen. Leichte Ablenkbarkeit mit sehr kurzer Aufmerksamkeitsspanne, Vorbeireden, einfache Aufforderungen wurden aufgefasst und bei Nachdruck befolgt. Ambivalenz und Ambitendenz im freien Bewegungsablauf fielen auf. Im Verlauf war ein Verharren in einmal eingenommenen Stellungen festzustellen. Etwaige inhaltliche Denkstörungen, Sinnestäuschungen und Störungen des Ich-Erlebens konnten mangels ausreichendem sprachlichen Kontakt zunächst nicht mit hinreichender Sicherheit bewertet werden.

Schwierige Differenzialdiagnose – Verdacht auf schizophrene Psychose

Aus dem psychopathologischen Querschnittsbefund war nach dem erfolgten Ausschluss potenzieller organischer ätiologierelevanter Faktoren von einem anorektisch-katatonen Syndrom, am ehesten im Rahmen einer beginnenden schizophrenen Psychose auszugehen. Dieser Verdacht wurde durch den weiteren Verlauf bestätigt. Die atypischen Neuroleptika Aripiprazol (15 mg), Risperidon (8 mg), Amisulprid (bis 800 mg) führten zu keiner relevanten Verbesserung. Unter Clozapin (bis 400 mg) wurde eine deutliche Beeinflussung des katatonen Bildes erreicht. Eine anorexietypische Präokkupation mit Essens- und körperbezogenen Gedanken sowie störungstypische Affekte wie Gewichtsphobie waren nie zu explorieren. Hinweise für Wahn und Sinnestäuschungen ergaben sich nicht. Das Essverhalten verbesserte sich in enger Korrelation mit der Verbesserung der katatonen Symptomatik. Kontinuierliche Gewichtszunahme bis zu einem BMI von 18,7. Die unter Clozapin häufig zu beobachtende massive Appetitsteigerung blieb bis zum Entlassungszeitpunkt glücklicherweise aus.


Tabelle 3: Katatone Schizophrenie


Katatone Syndrome vereinen als – prinzipiell nosologisch unspezifische – Störungen der Psychomotorik, des Antriebs und weiterer Willensfunktionen, die auch bei schizophrenen Psychosen vorkommen, psychische mit motorischen Auffälligkeiten [11, 19]. Mutismus, Stupor, Starrezustände (Katalepsie, Flexibilitas cerea), repetitive Phänomene im sprachlichen und Bewegungsbereich, eine als Ambitendenz bezeichnete Unentschlossenheit bzw. Entscheidungsschwäche, manierierte Bewegungsformen, Echo-Phänomene gehören neben affektiven Auffälligkeiten wie depressive oder maniforme Verfassungen und affektive Labilität zum breiten symptomatologischen Erscheinungsbild eines katatonen Syndroms [12, 18]. Katatone Phänomene können bei weiteren psychiatrischen Erkrankungen und bei einer Vielzahl somatischer Erkrankungen beobachtet werden [13, 14].

Appetit- und Gewichtsverlust-Symptome bei verschiedenen psychischen Störungen

Anorektische Bilder können neben den Leitsymptomen Gewichtsverlust oder bei Kindern fehlende Gewichtszunahme, die durch Nahrungskarenz selbst herbeigeführt wird, einer ausgeprägten Körperbildstörung sowie konsekutiven endokrinen Auffälligkeiten mit einem breiten Spektrum weiterer psychiatrischer Symptome wie Verstimmungszuständen, insbesondere zum depressiven Pol, Antriebsverlust oder hypermotorische Verhaltensweisen mit gesteigertem Bewegungsdrang, Entscheidungsschwäche, Grübelneigung, Ratlosigkeit einhergehen. Nicht immer sind psychiatrische Symptome sicher von Auswirkungen des Hungerzustandes abzugrenzen [16].


Tabelle 4: Anorexia nervosa

Anorektische Syndrome mit den klassischen psychopathologischen Symptomen Gewichtsphobie, Körperbildstörung, gedanklicher Einengung sind in der Anamnese beginnender schizophrener Psychosen ein durchaus bekanntes Phänomen, wie der hier skizzierte Fall illustriert [15, 17]. Umgekehrt können während schwerer anorektischer Verläufe vorübergehend psychotische Symptome in Form einer wahnhaften Verzerrung des Körpererlebens und der Körperwahrnehmung, repetitive motorische Phänomene, die an Stereotypien erinnern, Antriebsstörungen, Ambivalenz und Ambitendenz beobachtet werden, die mit sukzessiver Realimentation auch ohne adjuvante neuroleptische Behandlung abklingen.
Dass seelische Belastung zu Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust führen kann, ist ein vertrautes Phänomen. Im Vorfeld, mehr noch im Rahmen verschiedener psychischer Erkrankungen, ist Appetitverlust bis hin zur Nahrungskarenz häufig ein zwar sehr unspezifischer, aber wichtiger Indikator für die Auswirkungen der Erlebensveränderungen auf den Vitalbereich. Im öffentlichen, aber auch medizinischen Bewusstsein sind Essstörungen gerade bei Mädchen und jungen Frauen inzwischen sehr präsent. Andere psychische Erkrankungen, bei denen zumindest abschnittsweise ein anorektisches Syndrom auftreten kann und die zunächst mitunter nicht durch weitere offensichtliche psychopathologische Symptome erkennbar werden, dürfen dabei aber nicht übersehen werden. Depressive Verstimmungen, Zwangsstörungen oder beginnende schizophrene Psychosen mit Vergiftungsängsten, Sperrungen oder anderen Willensstörungen, auch akustische Halluzinationen in Form befehlender Stimmen, sind hier vorrangig zu nennen.
* alle Namen im Titelthema von den Autoren geändert
Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-ärzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen oder persönlichen Beziehungen zu Dritten haben, deren Interessen vom Manuskript positiv oder negativ betroffen sein könnten.

Autoren


Professor Dr. Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor


Dr. Adelina Mannhart, Leitende Oberärztin, Stellvertretende Ärztliche Direktorin


Dr. Anna Hutzelmeyer-Nickels, Funktionsoberärztin

alle kbo-Heckscher-Klinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie, Deisenhofener Straße 28, 81539 München


Dr. Rainer Huppert, Leitender Oberarzt

kbo-Heckscher-Klinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie, Abteilung Rottmannshöhe, Rottmannshöhe 1, 82335 Berg am Starnberger See, Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München

Korrespondenzadresse:
Professor Dr. Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor des kbo-Heckscher-Klinikums für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie, Deisenhofener Straße 28, 81539 München, Tel. 089 999911-01, E-Mail: franzjoseph.freisleder(at)kbo.de

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