Dunkle Tage im Frühling
Der US-amerikanische Politologe Yoshihiro Francis Fukuyama publizierte erstmals 1989 seine viel beachtete These vom „Ende der Geschichte“: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der von ihr abhängigen sozialistischen Staaten werde sich die liberale Demokratie bald endgültig und überall in der Welt durchsetzen. Spätestens mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine drängt sich die Frage auf, ob diese These nicht eher eine naive Illusion gewesen sein könnte. Denn die Fratze des Autoritarismus stellt erneut die europäische Friedensordnung in Frage und ist dabei, deren Früchte zu vernichten. In Folge der russischen Invasion – und insbesondere aufgrund der gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Art der Kriegsführung – sind Leben und Gesundheit unserer ärztlichen Kolleginnen und Kollegen und ihrer Mitmenschen in der Ukraine in allerhöchster Gefahr. Tausende wurden bereits verwundet, während die medizinische Versorgung in Teilen der Ukraine vor dem Zusammenbruch steht. Millionen Menschen mussten vor den Kämpfen fliehen und leiden unter den psychischen Folgen dieses Krieges.
Mit der Bedrohung wächst aber auch die Hilfe. In diesen wohl dunkelsten Stunden Europas seit dem Zweiten Weltkrieg erfahren die Ukrainerinnen und Ukrainer große Hilfsbereitschaft von der Weltgemeinschaft. Zusammen mit internationalen Hilfsorganisationen sind auch schon zahlreiche bayerische Ärztinnen und Ärzte ins Grenzgebiet zwischen der EU und der Ukraine gefahren, um aus der Ukraine vertriebene Menschen medizinisch zu versorgen. Gleichzeitig nimmt Bayern im Rahmen humanitärer Hilfe Verletzte oder Verwundete auf und trägt für die Versorgung dieser Patientinnen und Patienten in bayerischen Kliniken Sorge. Bei allen Kolleginnen und Kollegen, die sich durch Spenden oder persönlichen Einsatz in den vergangenen Wochen für die Mitmenschen aus der Ukraine engagiert haben, möchte ich mich an dieser Stelle im Namen der Bayerischen Landesärztekammer herzlich bedanken.
Ärzte, welche ebenfalls die medizinische Infrastruktur innerhalb der Ukraine unterstützen oder zur medizinischen Versorgung vertriebener Menschen in den Nachbarstaaten der Ukraine beitragen wollen, können sich auf der Internetseite der Bundesärztekammer registrieren und für Einsätze bereit erklären: https://bit.ly/3CmlzCN
Durch den völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine sind andere Themen in der öffentlichen Diskussion jedoch in den Hintergrund geraten. So hat die COVID-19-Inzidenz im Freistaat Mitte März 2022 einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Pandemie hat unserem Gesundheitswesen bisher erheblich zugesetzt. Wir Ärzte arbeiten – wie alle anderen Beschäftigten in Gesundheitsberufen – an der Grenze der Belastbarkeit, oft auch darüber hinaus. Nicht alle werden dem auf Dauer gewachsen sein, in manchen Gesundheitsberufen beginnt sich bereits ein Exodus zu manifestieren, der die Verschleißgefahr für die verbliebenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiter erhöht.
Der Wunsch nach Normalität ist menschlich verständlich und auch medizinisch begründbar. Die gesundheitlichen Kollateralschäden der Pandemie wie der Pandemie-Bekämpfung sind gravierend. So beobachten wir seit Beginn der Coronakrise einen Anstieg des Tabak- und Alkoholkonsums, von Übergewicht in Folge von Bewegungsmangel und vor allem von psychischen Erkrankungen infolge von Isolation. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen hat sich das Risiko für psychische Auffälligkeiten stark erhöht und viele unserer jungen Patienten litten in den vergangenen Jahren stark unter den zeitweisen Schließungen von Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen, unter zu wenigen Kontakten zu Freunden und Familienmitgliedern, unter reduzierten Möglichkeiten für Sport und Hobbies sowie unter vermehrten innerfamiliären Konflikten. Die aktuellen politischen Rahmenvorgaben scheinen einen klaren Weg aus der Pandemie derzeit jedenfalls eher wieder in weite Ferne rücken zu lassen, während eine immer noch zu niedrige Impfrate die Wahrscheinlichkeit für Virusmutationen und weitere
Viruswellen erhöht.
In dieser durch die Pandemie und nun auch noch durch den Krieg in der Ukraine geprägten Zeit, mit ihren besonderen Auswirkungen für unser Gesundheitssystem und die dort Beschäftigten, sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, mit diesen sorgsam umzugehen und ihre Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass möglichst viele von ihnen der Gesundheitsversorgung unserer Bevölkerung dauerhaft erhalten bleiben und der dringend benötigte Nachwuchs nicht schon vor dem Berufseinstieg abgeschreckt wird. Leider erleben unsere Kollegen, an den in Bayern zahlreichen Krankenhäusern in kommunaler Trägerschaft, derzeit das genaue Gegenteil. Die sich bereits seit sechs Monaten hinziehenden Verhandlungen über ihren Tarifvertrag gleichen der sprichwörtlichen Echternacher Springprozession, welche sich allerdings – im Gegensatz zu den Verhandlungen – tatsächlich vorwärtsbewegt.
Die kommunalen Krankenhausträger dagegen wollen am liebsten die 2019 erzielten Fortschritte schleifen und die Belastung ihrer Ärzte durch zusätzliche Nacht- und Wochenenddienste weiter erhöhen. Eine Corona-Prämie wollen sie nur gewähren, wenn die Empfänger im Gegenzug auf Gehaltserhöhungen verzichten. Ein „praemium“ aber ist eine Belohnung und keine Lohnersatzleistung. Zuletzt – und hier schließt sich der Kreis –
sollte der Krieg in der Ukraine als Argument dafür herhalten, dass Krankenhäuser keine weiteren Aufwendungen für ihre Ärzte erbringen könnten. Richtig: Krankenhäuser werden Patienten behandeln. Sie werden es aber – wie bei der Behandlung der COVID-19-Erkrankten – nicht auf eigene Rechnung tun, da unsere Gesellschaft diese humanitär dringend gebotene Hilfe schultern wird. Diese Hilfeleistung als Hinderungsgrund für die ebenso dringend notwendige Verbesserung der Arbeitsbedingungen auszuspielen, ist perfide.
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