Erste Europäische Leitlinie zum Nebennieren-Inzidentalom
Hintergründe
Raumforderungen der Nebennieren (NN) gehören zu den häufigsten menschlichen Tumoren überhaupt. Heutzutage werden sie zumeist als sogenannte Inzidentalome diagnostiziert. Als solche werden NN-Raumforderungen bezeichnet, die im Rahmen einer abdominellen Bildgebung zufällig detektiert wurden. Im Erwachsenenalter liegt die Gesamtprävalenz bei etwa drei Prozent, wobei jedoch eine eindeutige Altersabhängigkeit besteht. Daher kann die Prävalenz bei 80-Jährigen auch auf bis zu zehn Prozent ansteigen [1]. Da der Begriff Inzidentalom an sich keine eigenständige Diagnose darstellt, muss im weiteren Verlauf die Genese der zugrunde liegenden Raumforderung eruiert werden. Etwa 80 Prozent der NN-Inzidentalome sind endokrin-inaktive benigne Tumoren (meist Adenome), die keiner spezifischen Therapie bedürfen [2]. Bei den übrigen handelt es sich dagegen meist um behandlungsbedürftige Tumoren, wie zum Beispiel:
- Endokrin-aktive Adenome der Nebennierenrinde (Conn- oder Cushing-Adenome),
- Phäochromozytome,
- Nebennierenkarzinome oder
- Nebennierenmetastasen.
Bekannt ist, dass mit zunehmender Tumorgröße die Wahrscheinlichkeit eines malignen Prozesses zunimmt. So sind nur zwei Prozent der Tumoren < 4 cm Nebennierenkarzinome, während diese bei einem Durchmesser > 6 cm bereits über 25 Prozent der Fälle ausmachen [1]. Trotz der hohen Prävalenz und der potenziell gravierenden Folgen einer unkontrolliert hormonproduzierenden oder malignen Erkrankung gab es bisher keine international akzeptierten Leitlinien. Die in Fachkreisen lange Zeit wohl anerkanntesten Empfehlungen wurden bereits 2002 im Kontext einer Expertenkonferenz des US-amerikanischen National Institute of Health (NIH) ausgesprochen [1]. Zur Objektivierung der wissenschaftlichen Evidenz und zur Einbeziehung neuerer Erkenntnisse wurde daher 2014 von der Europäischen Gesellschaft für Endokrinologie beschlossen, in Kooperation mit dem Europäischen Nebennierentumor-Netzwerk ENSAT eine interdisziplinär erarbeitete, formale Leitlinie in Auftrag zu geben. Diese wurde kürzlich publiziert und ist online frei zugänglich [3]. Von einer zehnköpfigen interdisziplinären Expertengruppe werden hier – basierend auf den Daten einer ausführlichen Literaturrecherche mit Sichtung von über 6.500 Abstracts und 678 Vollpublikationen – Empfehlungen ausgesprochen.
Methodisch hat man sich des international üblichen GRADE-Systems (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation) bedient. Insgesamt sind 40 evidenzbasierte Empfehlungen in der Leitlinie enthalten, für welche zumeist der Evidenzgrad (Evidenzlevel) der zugrunde liegenden Studien sowie zusätzlich die Stärke der Empfehlung (Empfehlungsgrad) ausgewiesen ist. In diesem Artikel wird auf die Angabe des Evidenzgrads der Übersichtlichkeit wegen verzichtet. Für die Vergabe der Empfehlungsgrade wurden unter anderem Qualität der Evidenz (Evidenzgrad) und Bedeutung der Studienendpunkte, aber auch Punkte wie die mögliche Patientenpräferenz und die Umsetzbarkeit der Empfehlungen berücksichtigt.
Anhand des Empfehlungsgrades lassen sich zwei Kernaussagen unterscheiden, nämlich starke Empfehlungen („recommend“, hier übersetzt mit „empfehlen“) und schwächere Empfehlungen („suggest“, hier übersetzt mit „vorschlagen“).
Die erste Empfehlung betont das interdisziplinäre Management von NN-Inzidentalomen. Demnach wird empfohlen, dass alle Patienten mit Inzidentalom in einem interdisziplinären Tumorboard besprochen werden, sofern zumindest eines der folgenden Kriterien erfüllt ist:
- Die Bildgebungskriterien sind nicht eindeutig benigne,
- laborchemisch zeigt sich ein Hormonexzess,
- die Raumforderung zeigt im Verlauf ein Größenwachstum oder
- eine Nebennierenoperation wird angestrebt (aus welchem Grund auch immer).
Welche Anforderungen werden an die Bildgebung gestellt?
Eine relevante Neuerung ist die starke Empfehlung, bereits im Rahmen der erstmaligen diagnostischen Aufarbeitung Entität und Dignität eines NN-Inzidentaloms endgültig festzulegen (Abbildung 1), um idealerweise aufwendige Folgeuntersuchungen vermeiden zu können. Obwohl sich Technik und standardisierte Auswertung moderner Schnittbildgebungen in den vergangenen 20 Jahren deutlich verbessert haben, sind gemäß intensiver Literaturanalyse [4] nur die Daten für die native Computertomografie (CT) ausreichend robust. Bei dieser Modalität gilt: ist die NN-Raumforderung homogen und liegen die Hounsfield Units ≤ 10, dann schlägt die Leitlinie vor, von einem gutartigen Prozess auszugehen, der bei einer Läsion < 4 cm keiner weiteren Bildgebung mehr bedarf.
Liegen die Hounsfield Units beim nativen CT hingegen über zehn, ist keine sichere Beurteilung möglich und die Leitlinie schlägt folgende drei Optionen vor:
- Unmittelbare Durchführung weiterer radiologischer Untersuchungen, wobei die momentane Datenlage es nicht ermöglicht, hier eine Gewichtung vorzunehmen:
- CT mit Kontrastmittel-Washout nach 15 Minuten,
- Kernspintomografie (MRT) mit „chemical shift“-Analyse,
- Kombination aus Positronen-Emissions-Tomografie (PET) und CT unter Einsatz von 18-Fluordesoxyglukose (FDG),
- Folgebildgebung nach sechs bis zwölf Monaten oder
- direkte Operation.
Da – aufgrund der aktuellen Evidenzlage – keine dieser Optionen wirklich überlegen ist, wird empfohlen, diese Entscheidung in einem interdisziplinären Tumorboard zu treffen.
Von einer Biopsie der NN-Raumforderung wird – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen (siehe unten) – grundsätzlich abgeraten (starke Empfehlung). Ein wesentlicher Grund hierfür ist die Tatsache, dass eine zuverlässige Differenzierung zwischen Adenom und Karzinom anhand einer Biopsie häufig nicht möglich ist.
Abbildung 1: Zusammenfassung des klinischen Managements bei Patienten mit Nebennieren-Inzidentalom nach [3]. 1 nur bei Patienten mit Hypertonie und/oder Hypokaliämie; 2 nur bei Patienten mit Verdacht auf Nebennierenkarzinom
Welche Hormondiagnostik ist unbedingt notwendig?
Es wird empfohlen, bei allen Patienten mit einem NN-Inzidentalom nach entsprechender Anamnese und körperlicher Untersuchung folgende endokrinologische Laborparameter zu bestimmen: Cortisol im 1-mg-Dexamethason-Hemmtest sowie Metanephrine in Plasma oder 24-Stunden-Sammelurin (zum Ausschluss eines Cushing-Syndroms bzw. eines Phäochromozytoms). Bei gleichzeitigem Vorliegen einer arteriellen Hypertonie wird anhand des zu bestimmenden Aldosteron-Renin-Quotienten zusätzlich auch nach einem primären Hyperaldosteronismus gefahndet. Bei der körperlichen Untersuchung ist vor allem auf Zeichen eines klinisch manifesten Cushing-Syndroms zu achten (zum Beispiel Pergamenthaut, Striae rubrae, stammbetonte Adipositas, proximale Myopathie).
Ein neuer Aspekt der Leitlinien ist der Umgang mit der früher als „subklinisches Cushing-Syndrom“ bezeichneten Konstellation. Hierbei zeigt ein Betroffener zwar biochemisch einen Cortisolexzess, dieser hat sich aber nicht klinisch manifestiert. Der Begriff „subklinisches Cushing-Syndrom“ war in den vergangenen Jahren mehrfach kritisiert worden, da er uneinheitlich klassifiziert wurde und seine tatsächliche Relevanz fraglich blieb. In der aktuellen Leitlinie wird nun erstmals der Begriff „autonome Cortisolsekretion“ vorgeschlagen, welche dann vorliegt, wenn Patienten mit einem NN-Inzidentalom klinisch kein manifestes Cushing-Syndrom (zum Beispiel Pergamenthaut, Striae rubrae, stammbetonte Adipositas, proximale Myopathie) und im 1-mg-Dexamethason-Hemmtest ein inadäquat supprimiertes Serumcortisol > 138 nmol/l (> 5,0 µg/dl) aufweisen. Liegt dieser Wert hingegen zwischen 51 und 138 nmol/l (1,9 bis 5,0 µg/dl), spricht die Leitlinie von einer „möglichen autonomen Cortisolsekretion“. Diese Unterscheidung ist deshalb relevant, da zwei aktuelle retrospektive Studien eine Assoziation zwischen der Höhe des Dexamethason-supprimierten Cortisols und der Mortalität aufzeigen konnten [5, 6]. Da durch diese Daten allerdings keinesfalls eine Kausalität belegt ist, bezieht die Leitlinie neben dem Ergebnis des 1-mg-Dexamethason-Hemmtests weitere Faktoren in die Entscheidung ein, wie das Patientenmanagement idealerweise erfolgen soll. Hierbei sind insbesondere das Vorliegen potenziell Cortisol-assoziierter Komorbiditäten wie Adipositas, arterieller Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2, Hyperlipidämie und Osteoporose von Bedeutung. So wird empfohlen, bei Patienten mit autonomer Cortisolsekretion immer nach derartigen Begleiterkrankungen zu fahnden, um diese dann auch adäquat zu therapieren. Da diese Leitlinien erstmals klare Empfehlungen formulieren, wie genau mit Patienten mit auffälligem Dexamethason-Test umgegangen werden soll, ist dieser Vorschlag zum schrittweisen Vorgehen in Abbildung 2 dargestellt. Diesem Diagramm ist zu entnehmen, dass selbst Patienten mit eindeutig pathologischem Dexamethason-Test und Cortisol-assoziierten Komorbiditäten nicht automatisch operiert werden müssen, sondern hier eine Einzelfallentscheidung herbeizuführen ist.
Vor einer möglichen operativen Entfernung des NN-Tumors muss die ACTH-Unabhängigkeit des Cortisolexzesses bestätigt werden, damit der Eingriff nicht fälschlicherweise erfolgt, obwohl die Ursache des Hormonexzesses beispielsweise hypophysär bedingt ist.
Abbildung 2: Vorschlag der Leitlinie zu Diagnostik und Management eines potenziellen Cortisol-Exzesses (Durchführung bei allen Patienten mit Nebennieren-Inzidentalom) nach [3]. 1 Bei Patienten mit Komorbiditäten wird zur besseren Beurteilung des Ausmaßes des Cortisol-Exzesses weitere Diagnostik empfohlen: Plasma-ACTH, 24-h-Urin auf freies Cortisol, Bedtime-Speichelcortisol); 2 Zum Beispiel Adipositas, arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2, Osteoporose; 3 Operationsentscheidung maßgeblich vom Alter und Wunsch des Patienten abhängig; 4 Nachsorge durch Endokrinologen für zwei bis vier Jahre.
Welche Operationsverfahren stehen zur Wahl?
Auch die Aussagen zum operativen Vorgehen wurden in der aktuellen Leitlinie der Versorgungsrealität angepasst. So wurde das frühere Diktum verlassen, alle potenziell malignen Tumoren offen operieren zu müssen. Denn viele der in den vergangenen Jahren aufgrund eines möglichen Malignomverdachts durchgeführten Eingriffe erfolgten bereits laparoskopisch, weil man hoffte, dass der Befund histologisch doch gutartig sein würde. Jetzt ist der Vorschlag, bei Malignomverdacht und Tumoren ≤ 6 cm ohne Hinweis auf eine Lokalinvasion eher laparoskopisch als offen zu operieren. Sobald es allerdings Hinweise auf eine Lokalinvasion gibt, besteht die eindeutige Empfehlung zu einer offenen Adrenalektomie (Abbildung 3). Zusätzlich wurde festgelegt, dass Patienten mit einer endokrin inaktiven, bildmorphologisch eindeutig benignen Raumforderung keine Operation benötigen.
Abbildung 3: Welcher Patient soll wie operiert werden (modifiziert nach [3]). 1 Bei bildmorphologisch benignen Tumoren > 4 cm kann individuell auch eine Operation erwogen werden; 2 Eine „autonome Cortisol-Sekretion“ gilt keinesfalls automatisch als klinisch relevant (siehe Abbildung 2)
Welche Anforderungen bestehen an die individuelle Nachbetreuung von Patienten mit Nebennieren-Raumforderungen?
Basierend auf den oben ausgeführten Einschätzungen wird auch die Nachbetreuung betroffener Patienten substanziell vereinfacht. Wie oben ausgeführt, ist bei Tumoren < 4 cm, die als benigne eingestuft werden konnten, keine Folgebildgebung mehr notwendig. Bei unklaren Raumforderungen, welche im weiteren Verlauf nicht operiert wurden, wird eine erneute Schnittbildgebung mittels nativem CT oder MRT nach sechs bis zwölf Monaten vorgeschlagen. Zeigt sich ein Tumorwachstum > 20 Prozent (wobei der Durchmesser um mindestens 5 mm zunehmen muss), bedingt dies eine Operationsempfehlung. Auch auf eine routinemäßige Hormondiagnostik kann oftmals verzichtet werden. Eine endokrinologische Verlaufskontrolle wird nur bei Patienten mit (möglicher) autonomer Cortisolsekretion oder einer Verschlechterung potenziell Cortisol-abhängiger Komorbiditäten vorgeschlagen [7].
Patienten mit einem bekannten Malignom außerhalb der Nebennierenregion
Wird bei Tumorpatienten während einer Staging-Untersuchung eine NN-Raumforderung diagnostiziert, ist diese zwar im eigentlichen Sinne kein Inzidentalom, da hier per se die Wahrscheinlichkeit einer NN-Metastase erhöht ist. Dennoch gibt die Leitlinie auch für derartige Konstellationen konkrete Empfehlungen. So kann die Diagnostik je nach Gesamtprognose reduziert werden. Allerdings wird empfohlen, in jedem Fall mittels Bestimmung der Metanephrine (in Plasma oder 24-Stunden-Sammel-urin) zumindest ein Phäochromozytom auszuschließen.
Bei dieser Patientengruppe ergibt sich eigentlich auch die einzige relevante Indikation zur Biopsie. Und zwar, wenn jede der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist [8]:
- Extraadrenales Malignom in der Anamnese,
- aktueller Ausschluss einer Hormonaktivität (insbesondere eines Phäochromozytoms),
- die adrenale Läsion ist bildmorphologisch nicht als benigne einzustufen und
- das Ergebnis der Biopsie beeinflusst das weitere Patientenmanagement.
In den Leitlinien wird auch auf weitere Sonderfälle eingegangen (zum Beispiel bilaterale NN-Inzidentalome, junge – Alter < 40 Jahre – bzw. gebrechliche Patienten), worauf aus Platzgründen hier jedoch verzichtet wird.
Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-ärzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.
Timo Deutschbein gibt an, dass kein Interessenskonflikt besteht. Martin Fassnacht gibt an, dass mit Ausnahme seiner Co-Autorenschaft bei der aktuellen europäischen Leitlinie kein Interessenkonflikt besteht.
Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen oder persönlichen Beziehungen zu Dritten haben, deren Interessen vom Manuskript positiv oder negativ betroffen sein könnten.
Professor Dr. Martin Fassnacht,
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