Fatales Spiel mit der Angst

Dr. Gunda Wößner, Diplom-Psychologin

Das geplante neue Bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (BayPsychKHG) stilisierte psychisch Kranke zu einer Gefahr für die Allgemeinheit. Auch nachdem die bayerische Landesregierung in einigen Details zurückruderte, bleiben Bedenken.

Im April 2018 fährt Jens R. in Münster mit einem Kleinlaster in eine Menschenmenge. Vier Tote und mehrere Schwerverletzte sind zu beklagen, der Täter erschießt sich vor Ort. Wie sich kurze Zeit später herausstellt, war der Fahrer psychisch labil und raste absichtlich in die Gruppe. Im März 2015 bringt der Germanwings-Pilot Andreas L. einen Airbus A320 über den französischen Alpen zum Absturz und reißt fast 150 Menschen mit in den Tod. Er war seit Längerem in psychiatrischer Behandlung. An einem Sommerabend im Juni 2013 steht der an einer Schizophrenie erkrankte Manuel F. nackt im Berliner Neptunbrunnen und geht mit einem Messer auf einen Polizisten zu, der ihn schließlich erschießt.

 Psychisch Kranke gelten als unberechenbar

Solche prominenten, medienwirksam aufbereiteten Beispiele verstärken den Eindruck, dass psychisch Kranke eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen. Gerade den Einsatzkräften der Polizei erscheinen sie häufig als eine besonders gefährliche Klientel. In einer nicht repräsentativen Umfrage unter Polizeikommissaranwärterinnen und -anwärtern glaubten nur rund zehn Prozent, psychisch Kranke seien nicht gefährlicher als psychisch unauffällige Personen. Zudem ging die Hälfte der Befragten davon aus, dass psychisch kranke Personen unberechenbar seien. Auch in einer für die allgemeine Bevölkerung repräsentativen Umfrage, dem „Eurobarometer Psychische Gesundheit 2006“, gaben 37 Prozent an, psychisch Kranke stellten eine Gefahr für andere dar, hier waren fast zwei Drittel der Überzeugung, sie seien unberechenbar. Ist es also nicht legitim und geradezu angezeigt, psychisch kranke Menschen besonders in das Blickfeld sicherheitspolitischer Maßnahmen zu nehmen? Genau das ist eine Intention des Bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes, wie es im April vom bayerischen Kabinett verabschiedet und in erster Lesung vom Landtag diskutiert wurde. Nach dessen ersten Entwurf sollten psychisch kranke Menschen in psychiatrischen Kliniken festgehalten und der Polizei gemeldet werden. Bei der Entlassung sollte die Polizei ebenfalls informiert werden. Die Krankendaten sollten in einer zentralen, auch den Sicherheitsbehörden zugänglichen Datei, gespeichert werden. Der Gesetzentwurf orientierte sich dabei an Vorschriften aus dem bayerischen Maßregelvollzugsgesetz und dem bayerischen Gesetz zum Vollzug der Sicherungsverwahrung. Menschen mit einer psychischen Erkrankung sollten wie Täter behandelt werden. Nur auf Druck diverser Fachverbände wurde der Gesetzentwurf zwischenzeitlich entschärft. Von einer zentralen Unterbringungsdatei hat die Bayerische Staatsregierung mittlerweile Abstand genommen. Und die Gefahrenabwehr ist nicht mehr, wie in der ursprünglichen Fassung, oberstes Ziel, sondern nun doch die Behandlung und Heilung psychisch Kranker. Tatsächlich wird nur ein sehr geringer Anteil psychisch kranker Personen überhaupt mit gewalttätigem Verhalten auffällig, wie verschiedene internationale Studien zeigen. In der öffentlichen Diskussion stehen aber spektakuläre Tötungsfälle im Zentrum des medialen Interesses. In der Folge verfestigt sich die Überzeugung, psychisch Kranke seien gefährlich.

Eindeutige Risikogruppen gibt es nicht

Psychische Krankheit kann viele Gesichter haben. Nur wenige Patienten mit psychischen Erkrankungen gehören überhaupt zu der Risikogruppe, die ein erhöhtes Gewaltrisiko aufweist. Dies besteht zudem aber nur dann, wenn weitere Faktoren hinzukommen, was sich am Beispiel der Schizophrenie zeigen lässt, die vergleichsweise häufig mit Gewalttaten in Verbindung gebracht wird. So hängt das Risiko einer Gewalttat stark vom Inhalt der Wahnsymptomatik ab. Es kommt ferner darauf an, ob die betreffende Person unter Druck gerät, gleichzeitig ein Drogenproblem hat, ob sie sich in psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung befindet oder nicht und ob ein chronifizierter Krankheitsverlauf vorliegt. Ohnehin begehen internationalen Studien zufolge weniger als zehn Prozent der an Schizophrenie Erkrankten Gewaltstraftaten. Selbst wenn dieser Anteil bei gleichzeitigem Vorliegen einer Suchterkrankung ansteigt, sind es auch in diesen Risikogruppen immer Einzelfälle, bei denen es zu Gewalttaten kommt. Mit Ausnahme von Drogenabhängigkeit und bestimmten Persönlichkeitsstörungen besteht bei allen anderen psychischen Erkrankungen ein noch geringeres Gewaltrisiko. Natürlich ist es wichtig, das reale Gefahrenpotenzial ernst zu nehmen – etwa, wenn wahnerkrankte Personen drohen, anderen etwas anzutun. Daraus eine allgemeine Gefahr abzuleiten ist jedoch falsch. In einer aktuellen US-amerikanischen Untersuchung mit mehr als 36.000 Personen standen Angsterkrankungen beispielsweise in keinerlei Zusammenhang mit Gewalt. Bei Menschen mit einer depressiven Erkrankung steht überdies eher die gegen sich selbst gerichtete Gewalt im Vordergrund. Zudem beeinflussen – je nach psychischer Erkrankung – Alter, Dauer und Verlauf der Erkrankung sowie sozioökonomische Faktoren die konkrete Wahrscheinlichkeit, ob eine psychisch kranke Person mit gewalttätigem Verhalten auffällig wird. Diese Befunde werden durch diverse Studien aus verschiedenen europäischen Ländern bestätigt. Es gibt also keinen simplen Kausalzusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und Gewalt. Diesen empirischen Erkenntnissen stehen vermeintliche Praxiserfahrungen etwa seitens der Polizei gegenüber, die in Stereotypen über psychisch Kranke verallgemeinert werden. So werden Vorurteile geschürt, die an längst überwunden geglaubte Zeiten erinnern. Und das, obwohl man in den vergangenen Jahren noch davon ausging, die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen lasse nach. Allen Aufklärungskampagnen zum Trotz nimmt sie jüngst allerdings wieder zu. Eine repräsentative, in Deutschland durchgeführte Studie, zeigt, wie sich die Einstellung gegenüber psychisch Kranken zwischen 1990 und 2013 verändert hat: So brachte 2013 ein signifikant höherer Anteil der Befragten zum Ausdruck, Angst vor psychisch Kranken zu haben und sich in deren Gegenwart unwohl zu fühlen, als 23 Jahre vorher. Insgesamt stieg die Ablehnung gegenüber Personen mit einer psychischen Erkrankung. Dies sind beunruhigende Entwicklungen. Vor dem Hintergrund, dass jedes Jahr ein Drittel der deutschen Bevölkerung an mindestens einer psychischen Störung erkrankt, muten sie zudem schon fast widersinnig an. Ungefähr jede und jeder Vierte wird im Laufe des Lebens einmal psychisch krank. Psychische Erkrankungen stehen noch vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Infektionen an vierter Stelle der häufigsten Arbeitsunfähigkeitsgründe. Es kann folglich jede und jeden von uns treffen.
Der erste Entwurf des neuen Bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes spiegelte viele der Vorurteile wider. So definierte es als oberstes „Ziel der Unterbringung“ die Gefahrenabwehr. Nur als „weiteres Ziel“ war die Heilung der psychisch kranken Personen formuliert. Auch durch andere Klauseln des Gesetzentwurfs wurden psychisch kranke Menschen in die Nähe von Gefährdern gerückt. So sollte die untergebrachte Person nur dann das Recht haben, eine Person ihres Vertrauens zu benachrichtigen, wenn dies mit dem Ziel der Unterbringung vereinbar ist. Zudem sollten Gerichte und Polizeidienststellen von der bevorstehenden Entlassung unterrichtet werden. Zur Begründung dieser Neuerung wurde angeführt, die Polizei habe bisher nicht immer sicherstellen können, in Einzelfällen erforderliche Maßnahmen zeitnah ergreifen zu können. Dies sei aus Gründen der Gefahrenabwehr nur schwer vertretbar, wie es in der Drucksache des Bayerischen Landtags zum Gesetzentwurf heißt. Hierin liegt eine alarmierende Entwicklung. Psychisch Kranke werden zu Gefährdern, die es polizeilich zu beobachten gilt. Ihre Stigmatisierung als Randgruppe wird verstärkt, ganz abgesehen davon, dass nicht nachvollziehbar ist, auf was und wie die Polizei unmittelbar reagieren möchte, wenn sie von der Entlassung einer bis dato eingewiesenen Person erfährt.

Psychisch Kranke werden zu Gefährdern

Fachverbände, die das neue Gesetz kritisierten, wiesen zu Recht auf die fatalen Folgen für die betroffenen Menschen hin. Die Gefahr der zunehmenden Ausgrenzung psychisch Kranker war ein wesentlicher Kritikpunkt. Es ist durchaus möglich, dass durch die Verunsicherung, die der Gesetzentwurf ausgelöst hat, die Hürde für die Patientinnen und Patienten höher geworden ist, sich in psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Vor dem Hintergrund, dass das Risiko für aggressives Verhalten bei nichtbehandelten Risikogruppen wächst, könnte das Gesetz die Gefahr von Gewalttaten also nicht senken, sondern, im Gegenteil, eher noch erhöhen. Es ist frustrierend, wie wenig im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses die Wirkung der intendierten Maßnahmen und empirisch belegte Zusammenhänge berücksichtigt wurden. Die Einstufung, psychisch Kranke als Gefährder oder eine Gefahr darzustellen, hat etwas Willkürliches, vor allem dann, wenn man die Gefährdung des Allgemeinwohls – wie im Entwurf des Bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes formuliert – als Unterbringungsgrund definiert. Gerade bei erheblichen Eingriffen in die grundgesetzlich garantierten Freiheiten, wie sie die Unterbringung von Menschen mit psychischen Erkrankungen darstellt, sollten die Voraussetzungen klar definiert sein. So weist auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gerade hinsichtlich der Unterbringung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ausdrücklich darauf hin, dass diese vor Willkür zu schützen sind.
Allein die Tatsache, dass der Freistaat Bayern ein Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz mit dem Ziel der Gefahrenabwehr einführen wollte, macht sehr deutlich, was im Zentrum des Interesses steht. So wie bei dem kürzlich verabschiedeten Polizeiaufgabengesetz oder bei dem im Sommer vergangenen Jahres in Kraft getretenen Gesetz zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen gilt es, eine vermeintlich „drohende Gefahr“ mit immer weitreichenderen Eingriffsbefugnissen zu bekämpfen. Das Bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz droht zur langen Hand eines Polizeirechts zu werden, das sich eine immer größere Flexibilisierung von Eingriffsvoraussetzungen und zunehmend extremere Vorverlagerungen polizeilicher Eingriffsbefugnisse einverleibt.

Ausweitung polizeilicher Befugnisse

Ein Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz darf nicht zu einem Polizeigesetz werden. Vielmehr ist es wichtig, sich darauf zu besinnen, dass aufsehenerregende Gewalttaten von psychisch Kranken Einzelfälle darstellen und es bei einem Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz generell um eine bessere Qualität der Unterbringung und Behandlung von psychisch Kranken gehen muss. Denn die Polizei wird in der Regel nur dann zu Hilfe gerufen, wenn sich psychisch Kranke in Krisensituationen befinden, in denen andere Personen oder Institutionen mit ihnen kaum noch zurechtkommen – in Ausnahmesituationen also. Für die Polizei bedarf es daher allenfalls einer Verbesserung der polizeilichen Ausbildung im Umgang mit einem psychisch labilen Gegenüber, bei dem klassische polizeiliche Interventionen vielleicht nicht mehr greifen. Hierzu gehört die Vermittlung grundlegenden und differenzierten Wissens zu psychischen Erkrankungen, was in den Lehrplänen der polizeilichen Ausbildung teilweise bereits umgesetzt wird. Auch aus der Aufarbeitung von Fällen, bei denen die Polizei gegenüber psychisch Kranken Schusswaffen eingesetzt hat, ließe sich selbstkritisch lernen. Diesem Blick nach innen sollte sich eine moderne Polizei nicht verschließen.
Eine vernünftige und aufgeklärte Kriminal- und Sozialpolitik muss sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen und Standards orientieren und nicht an populistischen Strömungen. Es ist falsch, auf diffuse Ängste der Bevölkerung mit ebenso diffusen, undifferenzierten und populistischen Maßnahmen zu reagieren. Richtig ist es hingegen, sich auf empirische Erkenntnisse zu besinnen, sich zu vergegenwärtigen, welche Maßnahme welche Wirkung entfaltet, und Anti-Stigmatisierungskampagnen sowie mehr Aufklärung zu wagen. Dazu kann auch eine Wissenschaft beitragen, die vermehrt in die Öffentlichkeit tritt.

Der Beitrag wurde bereits in einer längeren Fassung in der „Max Planck Forschung“ 2/2018 veröffentlicht.

Autorin


Dr. Gunda Wößner, Diplom-Psychologin

Senior Researcher und Projektleiterin, Abteilung Kriminologie, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Guenterstalstraße 73, 79100 Freiburg, Tel. 0761 7081-289, Fax 0761 7081-294, E-Mail: g.woessner(at)mpicc.de, Internet: www.mpicc.de

Bildnachweis
Foto: Jessica Hath für MPI für ausländisches und internationales Strafrecht

Top