Gesund leben auf einer gesunden Erde

Gesund leben auf einer gesunden Erde

Das neue Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderung (WBGU)

Orientierend am normativen Kompass (Abbildung 1) entwickelte der WBGU für seine Vision „Gesund leben auf einer gesunden Erde“ die Handlungsempfehlungen für eine solidarisch getragene Transformation [1]. Eine dieser zentralen Handlungsempfehlungen ist es, die transformativen Potenziale der Gesundheitssysteme zu nutzen. Der WBGU empfiehlt, Gesundheit als Ansporn für transformatives Handeln in der Gesellschaft zu nutzen. Es ist Zeit, dieses Potenzial zu ­gesellschaftlichen Verhaltensveränderungen zu nutzen. Möglich wird dies, indem das Gesundheitswesen den Menschen ­gesundheitlich positive Anreize und Mehrgewinne anbietet – der Gewinn: nachhaltige Gesundheit für Körper und Geist. Neben der leichten Umsetzung für jedermann werde so ein „gesundes“ Bewusstsein gefördert und werden gleichzeitig neue gesellschaftliche Werte generiert.



Abbildung 1: Die drei Dimensionen des Kompasses, die im Einklang stehen sollten, sind die (1) Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, (2) die materielle, ökonomische und politische Teilhabe aller Menschen, sowie (3)
„die Anerkennung von Eigenart im Sinne der Wertschätzung von Diversität und Entfaltungsmöglichkeiten“ [1].

Der WBGU untermauert seine Vision mittels fünf Eckpunkten

Der Wissenschaftliche Beirat stellt in seinem neuen Hauptgutachten „Gesund leben auf einer gesunden Erde“ fünf Eckpunkte auf, wie sich ­diese Vision „Gesund leben“ für alle verwirklichen lässt. Der erste Eckpunkt klingt ganz banal – der Mensch ist Teil der Natur. Doch als Teil dieser ­bezieht die Menschheit ihre Lebensgrundlagen aus der Natur. Die Natur ist die Basis der menschlichen Gesundheit. Und diese ­Abhängigkeit ist hochkomplex. Die menschliche Evolution fand in unbelasteten, artenreichen Ökosystemen statt. Der Mensch besiedelte diese Ökosysteme und ­lebte von ihnen. Der Mensch wurde, wie jedes andere Tier auch, Teil einer Symbiose mit Milliarden von Mikroorganismen. Diese Mikroorganismen leben seit jeher auf uns und in uns. Rund die Hälfte der Biomasse unseres Planeten ist auf diese Mikroorganismen zurückzuführen, die ­außerdem in Gewässern, im Boden und sogar in der Luft leben und die vielfältigsten Symbiosen mit Pflanzen und Tieren eingehen. Eine Symbiose im Gleichgewicht stellt keine Gefahr für einen gesunden Organismus dar. Doch dieses Gleichgewicht wird immer häufiger gestört. So findet neben dem großen sechsten Artensterben fast unbemerkt ein Verschwinden der Kleinstlebewesen in Böden und Gewässern statt [2]. Der Mensch selbst gefährdet sein eigenes Mikrobiom durch seine Lebensweise [3, 4]. Doch der Mensch gefährdet auch seine eigenen Nahrungsgrundlagen, wenn beispielsweise Insekten fehlen, die Nutzpflanzen bestäuben oder wenn Böden verarmen, weil die Kleinstlebewesen fehlen, die die Nährstoffe im Boden halten, oder wenn Gewässer gleichzeitig verschmutzt und überfischt werden. Der Mensch ist eben ein Teil der Natur und kann sich nur nachhaltig aus ihr bedienen. Der zweite Eckpunkt der Vision „Gesund leben auf einer gesunden Erde“ zielt deshalb darauf ab, die Ökosysteme zu schützen und damit das Leben und die Gesundheit der in ihr lebenden Arten einschließlich des Menschen. Die Rede ist von planetaren Leitplanken, die eingehalten werden müssen. Das bedeutet aber auch, dass wir jetzt handeln müssen, um die Emission von Treibhausgasen zu stoppen und die Folgen des Klimawandels so gut es geht einzuschränken. Das 1,5°C-Ziel globaler Erwärmung, erst vor acht Jahren ausgehandelt auf der 21. UN-Klimakonferenz (COP21) in Paris, ist jetzt schon kaum noch einzuhalten. Der Verlust an Biodiversität und sauberem Trinkwasser muss gestoppt werden. Jede weitere Umweltveränderung, die die Menschheit aus diesen planetaren Leitplanken hinaustragen würde, ist einzustellen. Dazu bedarf es entschlossenen Handelns („Stewardship“ [5]). Diese Stewardship ist auch nötig, um nach dem Prinzip von Planetary Health Gerechtigkeit für alle, zwischen arm und reich, zwischen Menschen und Natur, aber auch zwischen den Generationen zu gewährleisten [6]. Dieses Handeln muss sich in Prinzipien, Strategien, quantifizierten und qualitativen Zielen und politischem Handeln systemübergreifend widerspiegeln.

Dazu gehört es auch, wie es der WBGU in seinem Gutachten als dritten Eckpunkt der Vision beschreibt, Prävention zu fördern, widerstandsfähige Systeme aufzubauen und Entwicklungspotenziale zu stärken (Abbildung 2). Das rein kurative Wesen der Gesundheitssysteme ist ebenso nicht länger tragbar wie die kurzfristige Bekämpfung von Umweltschäden, die eigentlich vermeidbar wären. Es geht vielmehr um schnelle, effiziente und wirksame Gesundheitssysteme, die um langfristige Strategien der Prävention und Resilienzbildung ergänzt werden müssen. Komplementär müssen resiliente Ökosysteme gefördert und gesunde Lebenswelten gestaltet werden. Diese können wiederum individuelles Verhalten zum gesunden und nachhaltigen Verhalten adressieren. Hier bedingt das eine das andere und so könnte man die besondere Verantwortung von Ärztinnen und Ärzten dahingehend umschreiben, dass gerade sie in der täglichen Arbeit mit Patientinnen und Patienten das Vertrauen genießen, um das Interesse an gesunden Lebenswelten anzustoßen. Auf diese Weise kann nachhaltiges Verhalten initiiert werden und damit erst – unter breitem gesellschaftlichem Konsens, Akzeptanz und Partizipation – nachhaltige, resiliente Systeme aufgebaut werden.



Abbildung 2: Drei komplementäre Ansätze stehen zur Verfügung, um ein gesundes Leben auf einer gesunden Erde zu ermöglichen. Der bisherige Schwerpunkt reaktiv Schäden und Krankheiten zu beheben soll durch zwei weitere Schwerpunkte unterstützt werden – Prävention sowie Widerstandsfähigkeit und Entwicklungspotenziale – die bisher noch nicht oder nur schwach implementiert waren [1].

Es geht aber auch darum, resiliente Systeme in Entwicklungsländern aufzubauen. Ein nachhaltiger Wasser-Energie-Nahrungs-Nexus hilft nicht nur vor Ort in den Niedrig-Einkommensländern, er kann dazu dienen, die weltweite Nahrungsmittel- und Wasserversorgung sicherzustellen, sowie global Treibhausgasemissionen zu reduzieren und erneuerbare Energie bereitzustellen.

Unter Eckpunkt vier verweist der WBGU dann auch auf weltweite Solidarität und Teilhabe, die allen Menschen den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ermöglichen soll. Alle können vom medizinischen Fortschritt profitieren. Dies erfordert gerade auch in den armen Ländern, Prävention zu fördern, resiliente Strukturen aufzubauen und Entwicklungspotenziale zu stärken. Außerdem können insbesondere vulnerable Gruppen von verbesserten Umweltbedingungen profitieren. So werden nicht nur Umweltrisiken reduziert, sondern auch gesunde Lebenswelten für alle bereitgestellt. Hierzu müssen Länder und Bevölkerungsgruppen mit höherem Vermögen und Einkommen ihrer besonderen Verantwortung gerecht werden.

Eckpunkt fünf stellt klar, dass die Vision „Gesund leben auf einer gesunden Erde“ systemübergreifend getragen werden muss. Danach sollten sich Lebens- und Wirtschaftsweisen ausrichten, basierend auf neuen nationalen und globalen Kooperationen. Der WBGU schlägt einen erweiterten WHO-Gesundheitsbegriff vor: Nicht nur die Abwesenheit von Krankheit ist Voraussetzung für ein gesundes Leben, sondern der Zustand des vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens unter der Voraussetzung einer „gesunden“ Erde mit funktionierenden, ­resilienten und leistungsfähigen Ökosystemen und einem stabilen Klima. Jeder hat das Recht auf eine gesunde Umwelt. Dieses Recht sollte sich in der Verfassung der Nationalstaaten wiederfinden und auf das Bedürfnis vulnerabler Gruppen und den Anforderungen von Biodiversität in einer unversehrten Umwelt ausgerichtet sein.

Die transformativen Potenziale von Gesundheitssystemen nutzen

Eine der zentralen Handlungsempfehlungen des WBGU an die Regierung – neben zahlreichen weiteren Empfehlungen – ist es dann, auch diese transformativen Potenziale eines Gesundheitssystems zu nutzen. Denn das Gesundheitssystem soll viel mehr als bisher gesunde ­Lebenswelten vermitteln und gestalten. Die Gesundheitsdienste können die Bevölkerung informieren, wie gesunde Bewegung, gesunde Ernährung und gesundes Wohnen die Gesundheit positiv beeinflussen können. Diese gesunden Lebensweisen wiederum ermöglichen es, erst gesunde Lebenswelten zu gestalten und Ökosysteme zu erhalten. Eine wichtige Erkenntnis hierbei ist, dass Umweltveränderungen wesentliche Determinanten für Krankheiten sind. Gesunde Ökosysteme dagegen sind Voraussetzung für ­Gesundheit und Wohlstand. Die Wege dorthin sind vielfältig (zum Beispiel weniger Fleischkonsum, mehr körperlich aktive Fortbewegung) und sollen hier nicht weiter im Detail beschrieben werden; aber alle haben gemeinsam, dass sie eben nachhaltig sind und einem gesunden Leben dienen.


Der WBGU spricht hier von umweltsensibler ­Gesundheitsförderung und Prävention. Gesundheitsfachkräfte sollten befähigt werden, Aufklärung zu betreiben. Sie sollen über umweltbedingte Gesundheitsrisiken ebenso informieren können, wie über individuelle Anpassungsmaßnahmen. Ziel ist es, gesunde und nachhaltige Lebensstile in der Bevölkerung zu fördern und nachhaltig zu etablieren. Das Personal im Gesundheitswesen muss dazu ausreichend vergütet werden, die personelle Ausstattung muss verbessert werden und die Mitarbeiter selbst müssen, wie erwähnt, selbst dazu befähigt werden, dieses Wissen zu vermitteln. Dies muss verpflichtend durch Aus-, Fort- und Weiterbildungen geschehen.


Die Vernetzung und der Ausbau der ­öffentlichen Gesundheitsdienste soll sie zukünftig ­dazu befähigen, Kooperationen zur Verhältnis­prävention anzustoßen und zu koordinieren. Das bedeutet, dass sich die Aufgaben der ­Gesundheitsdienste deutlich erweitern werden. Eine bessere Ausstattung mit Umwelt- und Gesundheitsinformationssystemen soll ­dazu dienen, Expositions-, Vulnerabilitäts- und Anpassungsanalysen durchführen zu können und personalisierte Frühwarnsysteme (zum Beispiel Hitze- und Pollenwarnsysteme) zu etablieren. Strategien zur Verbesserung von Nachhaltigkeit und Resilienz sollten zukünftig systemübergreifend und auch international gedacht werden, um die Transformation zu nachhaltigen und gesunden Lebenswelten sektorenübergreifend und global erfolgreich zu machen. Der WBGU weist auf einen enormen Bedarf an Gesundheitsforschung hin. So soll die Bedeutung von Umweltveränderungen bzw. jene von gesunden Ökosystemen für die menschliche Gesundheit besser verstanden werden. Es sollten auch weiterhin die Voraussetzungen für Transformationen in den Gesundheitssystemen untersucht werden, zu Wirksamkeit und Mehrgewinnen durch Gesundheitsförderung und Prävention. Außerdem sieht der WBGU den Bedarf, Maßnahmen, Instrumente und Daten zur Stärkung von Nachhaltigkeit und Umweltresilienz durch wissenschaftliche Studien zu untersuchen.

Weitere Handlungs- und Forschungsempfehlungen

Der WBGU hat einen ganzen Maßnahmen­katalog in seinem Gutachten zusammengefasst. Doch zentral bleiben die Gesundheitssysteme und ihre Potenziale als treibende Kraft eines sektorenübergreifenden Wandels wirken zu können. Natürlich gibt es Empfehlungen zu nennen, die die Regierung, neben der Neuausrichtung des Gesundheitssystems, ­gezielt in anderen Sektoren vorantreiben muss. Insbesondere gesundes Wohnen ist hier zu nennen. Die städtebaulichen Entwicklungen müssen dazu führen, den Hitzestress zu mindern, die Luft in den Städten zu verbessern, Lärm und Licht (in der Nacht) zu reduzieren. Alle Maßnahmen, die dabei helfen können, dienen gleichzeitig einer Belebung der Biodiversität und bauen resiliente (Infra-)Strukturen gegen Extremwetter-Ereignisse auf, die zum Beispiel Sturzfluten wie ein Schwamm aufsaugen und langsam wieder abgeben können. Und Städte müssen in der Klimakrise nicht nur sprichwörtlich wieder zu Schwammstädten werden, sie müssen auch wieder „atmen“ können mittels Frischluftschneisen, weniger Abgase und mehr Grün.


Des Weiteren müssen natürlich auch Anreize vom Staat kommen, damit auch jeder finanziell in der Lage ist, für ein gesundes Leben ­gesunde Lebensmittel zu konsumieren. Das bedeutet vor allem, dass konventionelle Landwirtschaft weniger subventioniert und biologische Landwirtschaft besser gefördert werden muss. Die Fischerei und Aquakulturen müssen nachhaltiger werden. Der öffentliche Personennahverkehr muss besser ausgebaut werden, gleichzeitig muss aber auch die Vergütung der Mitarbeiter des ÖPNV verbessert werden. Schon jetzt fehlen vielerorts Mitarbeiter.


Der Staat muss seiner Verantwortung aber auch dahingehend gerecht werden, ein gesundes Leben als Menschenrecht anzusehen und planetaren Risiken, wie dem Klimawandel, Biodiversitätsverlust und Umweltverschmutzung, aktiv zu begegnen. Beispielsweise sind schädliche Subventionen fossiler Energieträger ­abzuschaffen, Ökosysteme müssen renaturiert werden und Verschmutzungen muss entschlossener durch Kreislaufwirtschaft oder strengere Auflagen für das Inverkehrbringen von und den Umgang mit Chemikalien begegnet werden.

Last, but not least empfiehlt der WBGU der Bundesregierung eine globale Umwelt- und Gesundheitsgovernance, die auf die inklusiven, die Würde des Menschen respektierenden Werte und einer internationalen, regelbasierten Ordnung fußen muss. Die Regierung solle sich dafür international auf EU-Ebene wie auch in den G7- und G20-Verhandlungen einsetzen.

Zusammenfassung

„Gesundheitssysteme können entscheidend zur Förderung gesunder und nachhaltiger Lebensstile beitragen, nachhaltiges Handeln in der Bevölkerung anstoßen und so als transformative Hebel wirken. Transformationen in Richtung Nachhaltigkeit, die stärkere Anpassung an Umweltveränderungen und die Stärkung von Resilienz in Gesundheitssystemen können darüber hinaus eine angemessene Gesundheitsversorgung unter Beachtung planetarer Leitplanken gewährleisten sowie nachhaltige Transformationen auch in anderen Sektoren beschleunigen.“ So schreibt es der WBGU in seinem Gutachten. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Arztpraxen, Kliniken, Pflegeheimen und Apotheken, Sie sind – je nach Alter Ihrer Klientel – Moderatoren, Berater, Vorbilder oder gar Influencer. Nur mit Ihnen kann das Gesundheitssystem als transformativer Hebel wirken. Es ist noch dringender an der Zeit, angesichts der globalen Umweltkrisen, dass die Politik dies einsieht, honoriert und das Gesundheitswesen finanziell, personell und in der Ausbildung besser ausstattet, um auf die ­aktuellen und bevorstehenden Herausforderungen vorbereitet zu sein.


Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.


Autoren

Professorin Dr. Claudia Traidl-Hoffmann
Dr. rer. nat. Jürgen Orasche


Lehrstuhl für Umweltmedizin, Medizinische Fakultät, Universität Augsburg, Stenglinstr. 2, 86156 Augsburg

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