Ins Aufgabenheft der zukünftigen Regierung geschrieben

Dr. Gerald Quitterer

„Knapp über die Ziellinie gerettet – Lauterbach warb emotional um seine Reform“, „Deutschlands erste Brombeer-Koalition steht“, „Mission Silberlocke – nennt sich der Versuch, die ­Linke zu retten“, „Nach Jahren rollt wieder ein Castorzug durch Deutschland“, „Wilder Ritt zum roten Planeten“, „In der Kandidatenfrage bleibt alles offen“, „Wenn die Kleinsten in den digitalen Sog abdriften“ und „Deutschland bleibt beim Klimaschutz zurück“. Schlagzeilen Stand November 2024 in einer weltpolitisch angespannten Zeit – Trumps Wahlsieg in Amerika, Krieg in Europa und im Nahen Osten, Klimawandel und COP 29, in der wir Sicherheit, Stabilität und Verlässlichkeit brauchen. Stattdessen bricht unsere Regierung auseinander, weil die Verfolgung eigener Parteiinteressen über eine gemeinsame Problemlösung gestellt wird. Der Wahlkampf hat begonnen.

Jetzt kommt es darauf an, ob in den Wahlprogrammen der einzelnen Parteien Lösungen für die anstehenden Themen und Probleme zu finden sind und insbesondere, ob wir Ärzteschaft uns darin auch repräsentiert sehen, mit besseren Rahmen- und Arbeits­bedingungen sowohl für den ambulanten als auch für den stationären Sektor, um auch in Zukunft eine exzellente Gesundheitsversorgung in Deutschland weiter gewährleisten zu können. Dabei sind wir nicht nur ein Garant für die medizinische Versorgung der Bevölkerung, sondern auch Unternehmen, die sich von digitalen Gesundheitsanwendungen und künstlicher Intelligenz schon dadurch unterscheiden, als dass wir Wählerstimmen darstellen. Gerade gesundheitspolitisch haben wir in den letzten Jahren ein Desaster erlebt und es ist an der Zeit für die Parteien, das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen.

Sicherheit, Stabilität und Verlässlichkeit im Gesundheitswesen ist Grundgedanke unserer Profession als Ärztinnen und Ärzte. Damit wir dies auch künftig so leben können, möchte ich der kommenden Regierung Folgendes ins Aufgabenheft schreiben:

»    Wir setzen auf den Erhalt der ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen. Um diese sicherzustellen gilt es, die Nieder­lassung von Haus-, Kinder-, und Fachärztinnen und -ärzten zu erhalten und zu fördern. Vorrangig vor anderen Versorgungs­angeboten, wie die vom derzeitigen Bundes­gesundheitsminister gelobten Gesundheitskioske und Community-Health-Nurses oder die von vielen herbeigesehnten digitalen Gesundheitsanwendungen oder die Künstliche Intelligenz.

»    Das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) mag jetzt auf Eis liegen, eine Entbudgetierung haus- und fachärztlicher Leistungen ist dennoch notwendig, um unnötige Quartalsuntersuchungen zu reduzieren, überfüllte Wartezimmer zu vermeiden und die Attraktivität der Niederlassung wieder zu erhöhen.

»    Ebenso muss endlich die seit Jahren von der Ärzteschaft geforderte gesetzliche Regulierung von investorenbetriebenen Medizinischen Versorgungszentren (iMVZ) umgesetzt werden, auf die wir in dieser Legislaturperiode vergeblich gewartet haben. Denn die Dynamik bei der Gründung und Ausbreitung von iMVZ-Ketten, die wirtschaftliche Interessen über medizinische Notwendigkeiten stellen, nimmt weiter zu. Da wird dann unter Umständen der Hausbesuch eben nicht mehr angeboten. Um den ärztlichen Beruf in seiner Unabhängigkeit zu schützen, müssen inhabergeführte Arztpraxen gestärkt und MVZ-Gründungen durch ärztlich geführte Praxisverbünde, Vereine, Genossenschaften und andere gemeinwohlorientierte Strukturen gefördert werden.

»    Auch die nach dem Krankenhausversorgungsverbesserungs­gesetz (KHVVG) zur hausärztlichen Versorgung unbefristet zugelassenen Krankenhäuser, die sogenannten sektorenübergreifenden Versorgungseinrichtungen (SÜV) werden die Versorgung nicht nachhaltig verbessern – sie stehen weder flächendeckend noch für den häuslichen Bereich zur Verfügung. In dieser Konkurrenzsituation wird auch niemand mehr in die Niederlassung gehen. Die Krankenhausreform muss deshalb rasch die nötigen Nachbesserungen erhalten, insbesondere, was die Verbindung von ambulantem und stationärem Bereich anbetrifft. Im stationären Bereich muss endlich eine patienten- und aufgabengerechte ärztliche Personalausstattung sichergestellt werden.

»    Unbedingt sollte sich die nächste Bundesregierung für ­finanzielle Unterstützungen einer Digitalisierung der Praxis­infrastruktur einsetzen. Denn die immer weiter steigenden ­Anforderungen bringen viele niedergelassene Ärztinnen und Ärzte an finanzielle Grenzen. Dies vor allem, wenn man bedenkt, dass der Orientierungspunktwert für ärztliche Leistungen in den vergangenen Jahren völlig unzureichend angestiegen ist. Wird hier nicht schnell gehandelt und ein umfassendes Praxisstärkungsgesetz verabschiedet, ist die flächendeckende Patientenversorgung gefährdet. Bereits jetzt droht oder besteht in vielen Regio­nen Bayerns eine ärztliche Unterversorgung. Dies wird unter den bisherigen politischen Vorgaben zunehmen. Apropos ­Digitalisierung: Die Anwendungen der Telematik-Infrastruktur (TI) müssen endlich ­nutzenorientierter gestaltet werden – ich denke da etwa an die elektronische Arbeits­unfähigkeitsbescheinigung und das elektronische Rezept, die nach Jahren der Erprobung noch immer nicht reibungslos funktionieren und letztendlich mehr zusätzliche Arbeit schaffen als zu deren Reduktion beizutragen. Bei der 2025 bevorstehenden Integration des TI-Messengers (TI-M) in die elektronische Patientenakte, deren Roll-out jetzt doch wegen „fehlender Referenzumgebung“ verschoben wird, muss das besser gelingen, wird diese doch die Arzt-Patienten-Kommunikation tiefgreifend verändern. Versicherte sollen sich dann über den TI-M direkt mit Heilberufen und Kostenträgern austauschen können – wie bei WhatsApp, Signal und Co.
 
»    Dringend erforderlich ist angesichts der Inanspruchnahme
unseres Gesundheitssystems eine Steuerung der Patientinnen und Patienten. In zweierlei Hinsicht: erstens die Lenkung durch ein Primärarztsystem und zweitens die Steuerung der Inanspruchnahme durch eine intelligente Regelung der Vergütung, die nicht von einer ­Mindestanzahl von Patientenkontakten abhängt, um eine Abrechnungsziffer in Ansatz bringen zu können. Eine ungesteuerte Inanspruchnahme medizinischer Leistungen kann es nicht mehr geben, schon allein des Grundgedankens einer solidarischen Krankenversicherung wegen.

»    Im Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) wird den Krankenkassen unter anderem ermöglicht, die Gesundheitsdaten ihrer Versicherten einzusehen und beispielsweise auf Gesundheitsrisiken hinzuweisen. Aus diesem Grund muss der Gesetzgeber klare Schranken setzen, wenn Kostenträger auf diese Weise selbst zum Leistungserbringer werden und so in die Versorgung einsteigen wollen. Am Primat der ärztlichen Entscheidungsfreiheit darf sich nichts ändern.

»    Ein wichtiges Ziel einer künftigen Regierung muss es sein, die Gesundheitskompetenz der Bürgerinnen und Bürger zu stärken. Positives Beispiel aus Bayern: „Gute gesunde Schule“, bei der Gesundheit aktiv in den Schulalltag integriert wird, durch die Förderung von Bewegung, gesunder Ernährung, Entspannung oder Nikotin- und Alkoholverzicht – durch die Gestaltung eines gesunden Lehr- und Lernumfeldes. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Das ist der geschützte Raum, die gesunde Umgebung, das ist ein Teil von „Health in all Policies“. Für eine ausreichende Vermittlung von Gesundheitskompetenz ist es jedoch erforderlich, umfänglicher als bisher Lernziele für Gesundheitswissen in die Lehrpläne zu integrieren und im Unterricht umzusetzen.
»    Hier ist auch der Staat in die Verantwortung zu nehmen, die nötigen gesetzlichen Voraussetzungen für eine Verhaltens­änderung in Richtung Prävention zu schaffen. Besonders wichtig sind deshalb Impulse der Bundespolitik zur Stärkung der Kinder- und Jugendgesundheit. Neben konzertierten Aufklärungskampagnen, wie durch ausreichend Sport, eine gesunde Ernährung und das Vermeiden von Alkohol- oder Tabakkonsum die eigene Gesundheit langfristig erhalten oder verbessert werden kann, braucht es etwa ein Verbot der Werbung für ungesunde Lebensmittel, Zuckersteuer auf gesüßte Getränke, Einschränkung des Medienkonsums für Kinder und Jugendliche, handyfreie Schulen und vieles mehr, was beispielsweise in anderen Ländern schon umgesetzt wird. Freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie haben sich bisher als wirkungslos erwiesen. Nicht zuletzt wird sich eine neue Bundesregierung klar zu Klimawandel und Gesundheit positionieren müssen. Aktuell drängt sich das Gefühl auf, die Politik ziehe sich aus diesem Thema zurück, schenkt ihm jedenfalls nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient. Vor der bevorstehenden Bundestagswahl müssen sich die politischen Parteien für die kommende Legislaturperiode ganz entschieden für den Klimaschutz einsetzen. Es braucht zudem einen klaren gesetzlichen Rahmen für gesundheitlichen Hitzeschutz auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene.

Grundsätzlich stellt sich abschließend die Frage, ob aktuell noch schnell wahltaktisch Gesetzesvorhaben umgesetzt werden sollen, die von großer Tragweite sind oder nicht besser eine neue Diskussion gefordert werden soll. Dazu gehört beispielsweise die Widerspruchslösung bei der Organspende. Eine Widerspruchslösung müsste nämlich dann neu betrachtet und auch neu diskutiert werden, wenn wir an der Todesdefinition rüttelten. Was wir hingegen dringend brauchen, ist das Gewalthilfegesetz, wenn wir gerade feststellen, dass es für Betroffene zu wenig Frauenhäuser gibt. Gesetze mit Folgenabschätzung bitte, auch und gerade, wenn es um Gesundheitsthemen geht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen und Ihren Familien ein schönes Weihnachtsfest und ein glückliches, friedvolles und gesundes neues Jahr 2025.

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