"Klima-Sprechstunde"

Dr. Ralph Krolewski

Welche patientenbezogenen Handlungsoptionen ergeben sich aufgrund der Erkenntnisse zu Ursachen, regionaler und globaler katastrophaler Folgen des anthropogenen Klimawandels und drohender irreversibler Veränderungen der natürlichen Erdsysteme in der täglichen hausärztlichen Praxis? Aus dieser Fragestellung erwuchs ein zunächst 2019 als Feldexperiment gestartetes Konzept in der Hausarztpraxis. 

Grundsätzliches

Aus dem Blickwinkel eines „Klima-Docs“ werden die drei Grundprinzipien der evidenzbasierten Medizin um die Dimension von „Planetary Health Values“ erweitert, welche den Wert der natürlichen Erdsysteme und Lebensgrundlagen für unsere Gesundheit, die Gesellschaft und Zivilisation und daraus resultierende Wechselwirkungen berücksichtigen. Aus der Zielsetzung „Gesunde Menschen, gesunder Planet“ [1], angesichts der wissenschaftlichen Evidenz zu den Bedrohungen durch die Klima-Krise, erwachsen wirksame präventive Interventionen in der Arzt-Patienten-Beziehung, welche gleichzeitig zu gesundheitlichen Vorteilen zur Senkung des individuellen ökologischen Fußabdrucks führen. Das völkerrechtlich verbindliche Ziel im Paris-Abkommen erfordert eine schnelle Decarbonisierung. 1,5 °C stellt sich inzwischen als dringliches Ziel dar, da bei Überschreitung bereits in acht bis zehn Jahren drohende Kipp-Punkte in den Erdsystemen im Korridor bis 2 °C mit einer 30-prozentigen Wahrscheinlichkeit eintreten, mit globalen katastrophalen Auswirkungen noch in diesem Jahrhundert [2].  

Der Weltklimarat (IPPCC) stellte als alleinige Ursache für die eingetretene Erderwärmung die anthropogenen Emissionen fest [2]. Die Verantwortung für die weitere Entwicklung und damit der Stabilität der natürlichen Erdsysteme liegt damit in den Händen der Staaten und der Zivilgesellschaften. Bis zum Überschreiten der kritischen Marke von 1,5 °C globale Erwärmung am Anfang der kommenden Dekade, verbleibt noch ein Restbudget für CO2-Emissionen von 300 Gigatonnen [2]. Zwölf Industriestaaten sind für 50 Prozent aller Emissionen verantwortlich und ein definierter Klimaneutralitätspfad zu den Zielen des Paris-Abkommens wird noch weitgehend verfehlt [3], sodass derzeit eine katastrophale Erderwärmung von 2,7 °C droht. Aus gesundheitlicher Sicht gilt: Jede Klimaschutzhandlung zählt und jedes Zehntel Grad Erderwärmung.

 


Abbildung: Integration der Planetary Health Values in der patientenorientierten "Klima-Sprechstunde".

Definition der „Klima-Sprechstunde“

Ein Wissen um den Zustand des Planeten bildet die wesentliche Voraussetzung zu einer Motivation zum Handeln im eigenen Wirkungsbereich, bei Heilberufen im Begegnungsraum mit Patientinnen und Patienten, in welchem Untersuchungen, Beratungen und Behandlungen stattfinden. „Klima-Sprechstunde“ verbindet das Wissen um die Veränderungen im Klima-System der Erde und die Auswirkungen des eigenen Handelns darauf, mit der ärztlichen Tätigkeit in allen Facetten und beinhaltet daraus entstehende Interventionen, Interaktionen, Handlungen und Reflexionen.

Der ökologische Fußabdruck als Betrachtungsgrundlage und Maßstab

Jede Handlung hinterlässt einen ökologischen Fußabdruck, gemessen in CO2eq. In Deutschland beträgt dieser pro Kopf 10,8 t CO2eq pro Jahr, wobei der Anteil von Konsum (28 Prozent), Mobilität und Reisen (23 Prozent) und Ernährung (14 Prozent) im deutschen Mix mit 65 Prozent den größten Anteil darstellen, bei einer Bandbreite um den Faktor 6 durch einkommensabhängiges Konsumverhalten [4]. Der europäische Durchschnitt liegt deutlich darunter (-25 Prozent) und der indische Durchschnitt mit 1,6 t CO2eq um ein Vielfaches. Unter Einbezug von Produktion, Waren- und Handelsverkehre und ihrer Emissionen in einem konsumbasierten Berechnungsansatz, sind 67 Prozent aller Treibhausgasemissionen konsumbasiert [5]. Unser Gesundheitswesen selbst verursacht Treibhausgasemissionen von 57 Megatonnen (Mt) CO2eq pro Jahr [6]. Damit entspricht der durchschnittliche ökologische Fußabdruck für Gesundheitsdienstleistungen pro Kopf der Bevölkerung jährlich 0,7 t CO2eq. Die Ziele des Paris-Abkommens in einem noch sicheren Korridor für die künftigen Lebensbedingungen erfordern eine Senkung um 90 Prozent Im britischen Gesundheitssystem ist diese Entwicklung mit konsequenten Zielsetzungen und Analysen zu den verursachenden Faktoren auf 605 Handlungsfeldern bereits eingeleitet [7]. Das zentrale Gremium der Europäischen Akademien der Wissenschaften forderte 2021 ebenfalls eine Decarbonisierung der Gesundheitssysteme [6].

Gesundheit als Bezugspunkt in der Verknüpfung mit Ernährung, Mobilität und Konsum

Ca. 77 Prozent der Erwachsenen in Deutschland weisen nach Erhebungen einen gesundheitsgefährdenden Bewegungsmangel auf, Jugendliche mit 88 Prozent noch erschreckend mehr [8]. Die Ernährung ist zumeist überkalorisch und fleischreich, was Morbidität und Mortalität erhöht. Ernährung und aktive Bewegung im Alltag entscheiden über Lebensjahre und -qualität. Es wurde berechnet, dass in diesen beiden Bereichen in Deutschland jährlich ca. 150.000 vorzeitige Todesfälle vermieden werden können, wenn eine mit den Zielen des Paris-Abkommens übereinstimmende Health-in-all-Politik umgesetzt würde [9], mit einer Treibhausgas-Reduktion von ca. 200 Mt CO2eq pro Jahr (20 Prozent).

In Großbritannien wiesen Radfahrer und Fußgänger bei Berufspendlern in einer Längsschnittuntersuchung eine um 24 Prozent verringerte Gesamtmortalität auf, bei Entfernungen von unter 10 km [10]. Der Anteil von Berufspendlern mit dem Pkw in diesem Segment liegt in Deutschland bei 49 Prozent. Auch in Dänemark und den Niederlanden gibt es dazu Erhebungen [11, 12]. Ähnliche Effekte ergeben sich bei einer gesunden vielfältigen und pflanzenreichen Ernährung mit einem geringen Fleischanteil (flexitarian diet), welche als „planetare Diät“ definiert wurde. Eine solche in den Bestandteilen definierte Ernährungsform kann eine gesunde Ernährung für 10 Mrd. Menschen auf unserem Planeten sicherstellen und verbindet Flächennutzungen, Anbaumethoden und Treibhausgasemissionen in den Agrarsystemen mit den Zielsetzungen des Paris-Abkommens [13]. Politische Initiativen können in Verbindung mit individualmedizinischen Maßnahmen einen großen Effekt auf die öffentliche Gesundheit haben. Großbritannien stellt Gesundheit und Klimaschutz verbindende Maßnahmen ins Zentrum der künftigen Verkehrspolitik. Die Niederlande zahlen radfahrenden Berufspendlern eine steuerfreie Kilometerpauschale von 0,19 Euro als Beteiligung am gesamtgesellschaftlichen Benefit durch Radfahren von 19 Mrd. Euro jährlich [14].

Die Durchführung der „Klima-Sprechstunde“ als Behandlungskonzept in einer Hausarztpraxis

Viele Beratungs- und Untersuchungsanlässe zu Erkrankungen in der Hausarztpraxis werden durch psychische und soziale Kontextfaktoren und durch den Lebensstil bei Bewegung, Mobilitätsverhalten und Ernährung, sowohl in der Entstehung als auch im Verlauf maßgeblich beeinflusst.

Die Patientensituation stellt im Konzept der „­Klima-Sprechstunde“ den Ausgangspunkt dar. Bei Rückenschmerzen als häufigem Beratungsanlass zeigen sich häufig Zusammenhänge mit Bewegungsmangel, Fehlhaltungen und der Arbeitsplatzsituation. Fast 90 Prozent der Bevölkerung entwickeln im Laufe des Lebens Rückenbeschwerden bis hin zu Phasen einer schmerzbedingten Immobilität. Morgendliches Aufstehen, Arbeitsweg mit dem Pkw, sitzende Arbeitshaltung oder muskulostatische einseitige Arbeitshaltung führen zu „Rücken-Stress“. Dabei fehlen alltägliche muskelaktivierende Bewegungsimpulse, bei denen ebenfalls über Myokin-Freisetzung sich vielfältige protektive Wirkungen auf Gehirnaktivität, Bewegungsapparat, Stoffwechsel und Immunsystem entfalten. Bei einem über 20 bis 30 Minuten aktiv zurückgelegten Arbeitsweg an frischer Luft kommt es zu einer Aktivierung des Organismus inklusive Muskulatur. Dieses stellt somit eine gesunderhaltende Möglichkeit im Alltag dar. Die Möglichkeiten werden mit Patienten nach Anamneseerhebung unter Betrachtung der individuellen Lebenssituation besprochen. Mit einer standardisierten Befragung wird ebenfalls der Ernährungsstil erfragt und fließt in eine Risikobetrachtung ein. Ein leitliniengerechter Risiko-Rechner wird zum kardiovaskulären Risiko eingesetzt und mit Patienten besprochen. Anschaulich können risikosenkende Effekte durch Lifestyle-Änderungen um bis zu 30 Prozent dargestellt werden und sind Gegenstand eines Gesprächs, in dem Änderungspotenziale erörtert werden. Beratungs­ergebnisse werden in Form eines individualisierten Patientenbriefs mitgegeben, in welchem besprochene Empfehlungen zum Nachlesen und Vertiefen mit Angabe von Quellen zu „planetarer Diät“, Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und Mobilitätsempfehlungen enthalten sind.

Ein salutogenetischer Ansatz mit patientenzentrierter motivierender, nicht direktiver Gesprächsführung und aufmerksamer Betrachtung des Alltags der Patienten mit Risikoanalyse und ­Engagement zur Prognoseverbesserung, kann bei bis zu 60 Prozent aller Beratungsanlässe verwendet werden. Psychische Erkrankungen, insbesondere depressive Erschöpfungssyndrome, Bluthochdruck, KHK, Diabetes mellitus, Gichtleiden und muskuloskeletale Erkrankungen, bieten hinsichtlich der genannten Kontextfaktoren vielfältige Anlässe zu nicht-medikamentösen Interventionen. Die Entwicklung einer höheren (­gesundheitlichen) Lebensqualität bei gleichzeitiger Senkung des ökologischen Fußabdrucks sind dabei das Ziel. Bei Interesse werden die resultierenden positiven emissionssenkenden Auswirkungen im Patientengespräch angesprochen.

Fazit

Zusammengefasst stellt die „Klima-Sprechstunde“ ein dynamisches, in die Arzt-Patientenbeziehung eingebettetes Konzept dar, in welches Ärztinnen und Ärzte ihr transformatives Potenzial einbringen. Die Arztrolle in der Arbeit mit Patienten­situationen wird dabei vielfältiger, weitergehende Lösungsansätze zeigen sich und folgen dem ethischen Gebot der Berufsordnung, an dem Erhalt der natürlichen Lebensgrund­lagen mitzuwirken.

Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Autor

Dr. Ralph Krolewski
Facharzt für Allgemeinmedizin, 51647 Gummersbach, Vorstand Hausärzteverband Nordrhein, Global Family Doctors (Working Group Environment) 

 

 

 

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