Neues aus der Forensischen Psychiatrie - Prävention als Schutz von Gesellschaft und Patientinnen/Patienten

Neues aus der Forensischen Psychiatrie

Prävention in der Forensischen Psychiatrie

In der Zeit vor 1980 bestand die Aufgabe des Faches darin, festzustellen, erstens, ob eine psychiatrische Krankheit (Störung) vorlag, die sich auf rechtliche Entscheidungen auswirkt, und zweitens in der Versorgung und dem Schutz der Gesellschaft vor psychisch Kranken, die für andere gefährlich werden könnten. Es ging um eine richtige Diagnosestellung, um Verwahrung von potenziell gefährlichen Patienten und um Abwehr von Verbrechen durch solche Patienten. In den folgenden Jahren gewann die Behandlung und Rehabilitation der psychisch kranken Straftäter zunehmend an Bedeutung.

Diese drei Aspekte Diagnostik, Verwahrung und Schutz, sowie Rehabilitation hatten in den darauffolgenden Jahren unterschiedliches Gewicht. Nach besonders schweren Verbrechen hatte der Schutz der Allgemeinheit besondere Bedeutung, sogar unter Hintanstellung von Dia­gnosen und deren rechtlicher Würdigung. Dies war nach dem Mord an der 7-jährigen Natalie Astner, die 1996 von einem kurz vorher aus dem Gefängnis entlassenen Straftäter sexuell missbraucht und getötet worden ist, besonders deutlich. Nach publizistisch ausgeschlachteten Falschunterbringungen in forensisch-psychia­trischen Kliniken, zum Beispiel im Fall Gustl Mollath, der von 2006 bis 2013 untergebracht war, gewann die sachgerechte Diagnostik ­erneut an Bedeutung.

Etwa ab Beginn der 1990er-Jahre rückte bei den wissenschaftlich arbeitenden forensischen Psychiatern allmählich die Erforschung des Rückfallrisikos bei ihrer Klientel in den Fokus des Interesses. Dies führte zu einer immensen Ausweitung des Wissens über Risikofaktoren und auch zu dessen praktischer Anwendung bei strafrechtlich untergebrachten Patienten. Die Vielzahl der Instrumente zur Risikoeinschätzung, die in jener Zeit entwickelt wurden und die bis heute angewendet werden, ist das wesentliche Ergebnis der damaligen empirischen Forschung.

Diese Entwicklung trug wesentlich dazu bei, dass Entlassungen aus dem psychiatrischen Maß­regelvollzug (Unterbringung in den Kliniken der forensischen Psychiatrie laut Gesetz auf der Basis eines Gerichtsurteils), differenzierter erfolgten und dass die therapie- und prognoserelevanten Faktoren präzise erfasst und entsprechend kontrolliert werden konnten. Der nächste Schritt in dieser Entwicklung bestand darin, dass Prävention erneuter Kriminalität, insbesondere von Gewalt- und Sexualdelikten nicht mehr nur darin bestand, die Betreffenden in geschlossenen Institutionen zu verwahren, sondern das Rückfallrisiko durch spezifische ambulante therapeutische und kontrollierende Maßnahmen zu minimieren. Um dies zu ermöglichen und um Rückfallprävention effektiv zu gestalten, wurden seit ca. 2000 bis in die letzte Zeit entsprechende Einrichtungen (forensisch-psychiatrische Ambulanzen zur Nachsorge entlassener Patienten, Nachsorgeeinrichtungen für Strafgefangene, die wegen einer Störung oder Auffälligkeit bereits in den Haftanstalten eine Therapie zur Rückfallprävention begonnen haben) aufgebaut und Regulierungen erarbeitet.

Damit war die Grundlage geschaffen, um Prävention von erneuten Straftaten bei psychisch Kranken oder Gestörten, die schon einmal straffällig geworden sind, in eine empirisch fundierte Praxis umzusetzen. Die einzelnen Schritte um dieses Ziel zu erreichen, bestanden darin:

1.    die therapeutisch angehbaren Defizite auch mithilfe entsprechend operationalisierter Untersuchungsverfahren differenziert zu analysieren, das heißt mit Hilfe von Kriterienkatalogen, Zuordnungsregeln und Vorgaben für Behandlungsprogramme, zum Beispiel wann und in welcher Form (zum Beispiel Einzel- oder Gruppentherapie) gearbeitet werden sollte, um eine möglichst evidenzbasierte, effektive Vorgehensweise zu erreichen.

2.    ein multimodales, therapeutisches Konzept zu entwickeln, welches koordiniert anhand manualisierter Therapieprogramme, welche das Gefahrenrisiko, die Bedürfnisse und den Lernstil der Patienten berücksichtigen (R-N-R-­Prinzip: Risk-Need-Responsivity-Prinzip) die Behandlung auf eine theoretisch fundierte Basis stellt [1]. Damit konnte trotz der Multiprofessionalität des Behandlungsteams ein übergreifender Behandlungsansatz verfolgt werden.

3.    Die Überleitung der Patienten in eine spezialisierte, ambulante forensisch-psychiatrische Nachsorge, in der nach den gleichen RNR-Prinzipien Fürsorge und Hilfe je nach den Bedürfnissen der Patienten und Kontrolle je nach ihrem jeweiligen Risiko durchgeführt werden.

Die Etablierung solcher Behandlungsstrategien bedarf der Zusammenarbeit aller, die an diesem Prozess beteiligt sind. Das sind neben den forensischen Psychiatern, ihren Teams und Institutionen auch die Gerichte, welche die wesentlichen Entscheidungen auf dem Weg der Patienten durch die Institutionen zu treffen haben, und vor allem die Politiker, die nicht nur die entsprechende finanzielle Unterstützung für die Versorgungsstrukturen bewilligen, sondern auch gesetzliche Regeln schaffen müssen, um derartige Behandlungs- und Präventionsmaßnahmen überhaupt aufbauen zu können.

Tatsächlich gelang diese Kooperation erstaunlich gut. Nachdem im Jahr 2000 die ersten wissenschaftlich begleiteten Modellversuche mit den forensisch psychiatrischen Nachsorgeambulanzen begannen, wurde wegen des großen Erfolgs des Modells bereits ein Jahr vor dem geplanten Ende der Erprobungsphase (2007) die Nachsorge flächendeckend in Bayern eingeführt. Tatsächlich haben sich auch die Investitionen in die neuen Strukturen gelohnt, weil Patienten früher entlassen und seltener zurückgeholt wurden und die Kosten für die ambulante Versorgung deutlich niedriger waren, als für eine stationäre Unterbringung.

Der Erfolg wurde als so groß angesehen, dass vom bayerischen Justizministerium 2009 vergleich­bare Nachsorgeeinrichtungen für Sexualstraftäter, die in sozialtherapeutischen Abteilungen von Justizvollzugsanstalten behandelt wurden und 2013 solche für Gewaltstrafftäter eingerichtet wurden. Auch diese Nachsorgeeinrichtungen haben sich für die Rückfallprävention bewährt [2].

Die Maßnahmen wurden auch vom Gesetz­geber gewürdigt, der 2007 mit einer Änderung des ­Gesetzes zur Führungsaufsicht forensische Ambulanzen, ambulante Therapieweisungen und stationäre Kriseninterventionen in den Gesetzes­text aufgenommen hat.

Verschiedene Untersuchungen belegten den Erfolg dieser Präventionsmaßnahmen. Geht man noch einmal an den Beginn zum Anfang der 1980er Jahre zurück und betrachtet die Rückfallrate der Maßregelvollzugspatienten, die vor 1983 entlassen wurden [3] mit jener, die nach Einführung einer systematischen Rückfallprävention erhoben wurde [4] so ist das Ergebnis beeindruckend (siehe Tabelle 1). Auch in anderen Untersuchungen zeigten sich nach Einführung der Ambulanzen zur Rückfallprophylaxe beeindruckende Ergebnisse [5]. Aktive Rückfallprävention bedeutet somit einen wesentlichen Schritt zu mehr Sicherheit für die Gesellschaft auf der einen und zu weniger Eingriffen in die Freiheit der Patienten auf der anderen Seite.

Aus diesen Erkenntnissen ergab sich die Frage, ob Prävention in der forensischen Psychiatrie nicht auch bedeuten muss, zu verhindern, dass Menschen und insbesondere spezielle Risikogruppen, mit denen die Psychiatrie häufig zu tun hat, überhaupt Patienten der forensischen Psychiatrie werden (Primäre Prävention). Zu diesen Risikogruppen gehören Patienten, die an einer Psychose leiden und deswegen ein höheres Gewaltrisiko darstellen, paraphile Patienten, die ihre Paraphilie (sexuelle Neigungen, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen) häufig nur mit einem Übertreten von Gesetzen und mit der Schädigung anderer ausleben können und auch Jugendliche, die unter schwierigen sozialen Verhältnissen leiden.

Prävention in der forensischen Kinder- und Jugendpsychiatrie

In Deutschland ist mehr als ein Fünftel aller Straftatverdächtigen jünger als 21 Jahre; häufig weisen diese einen schwierigen psychosozialen Hintergrund auf. Das bedeutet auch eine Herausforderung für die Kinder- und Jugendpsychi­atrie. Sie begegnet dissozial gefährdeten Patienten im klinischen Alltag mit unterschiedlicher Begleitsymptomatik schon im Vorschul- und Grundschulalter. Kinder- und Jugendpsychiater wissen einerseits, dass ein frühzeitiger Beginn aggressiver, oppositioneller und delinquenter Verhaltensprobleme – insbesondere, wenn diagnostische Abklärung und therapeutische Intervention unterbleiben – eine hohe Persistenz bis ins Erwachsenenalter zur Folge haben können. Unbestritten ist andererseits aber auch, dass erstmals in der Pubertät auftretende delinquente Verhaltensmuster nur episodenhaft und instabil sind und bis zum Erreichen des ­Erwachsenenalters oft wieder remittieren.

Obwohl sich für die Gewaltkriminalität im Jugend­alter statistisch gesehen nach jahrelangem Anstieg etwa ab 2007 leicht rückläufige Tendenzen angedeutet haben, scheint sich dieser ­positive Trend laut polizeilicher Kriminalstatistik 2022 wieder umzukehren. So kommt es in der Gegenwart gehäuft, bevorzugt im öffentlichen Raum (zum Beispiel Bahnhöfen, U- und S-Bahnbereich) zu brutalen, aggressiven Übergriffen durch jugendliche, teils noch strafunmündige Täter mit erniedrigter Hemmschwelle für Gewaltausübung, die medial große Resonanz finden. Aktuell im Fokus stehen in diesem Zusammenhang besonders von Jugendlichen verübte Messerdelikte, rassistisch motivierte Morde (Olympia Einkaufszentrum 2016) oder ein Terror-Anschlagsversuch mit Schusswaffengebrauch in der Nähe des israelischen Generalkonsulats (September 2024, ebenfalls in München).

Bei der psychiatrischen Begutachtung von jugendlichen (14- bis 17-jährigen) und heranwachsenden (18- bis 20-jährigen, oft nach Jugendstrafrecht verurteilten) Straftätern gewinnen neben der Einschätzung der Schuldfähigkeit – ebenso wie in der Erwachsenenforensik – ­Fragestellungen im Hinblick auf die Gewalt- und Rückfallprognose immer mehr an Bedeutung. In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass der ­Gesetzgeber zwischenzeitlich die Höchststrafe für nach Jugendstrafrecht verurteilte Heranwachsende von 10 auf 15 Jahre erhöht und auch im Jugendstrafrecht nach kontroversen Diskussionen eine nachträgliche Sicherungsverwahrung eingeführt hat. Bei der Begutachtung jugendlicher Straftäter wird es in Zukunft darauf ankommen, die persönliche Gutachterexpertise durch qualifizierte Methoden und Untersuchungsinstrumente zu erweitern und dadurch die Risikoeinschätzung bei durch Gewalthandlungen auffällig gewordenen Jugendlichen zu verbessern. Bei einer ersten, retrospektiv angelegten Validierungsstudie wurde im Rahmen des Münchner Prognoseprojektes die deutsche Version eines Testverfahrens zur Beurteilung des Gewaltrisikos „Structured Assessment of Violence Risk in Youth (SAVRY)“ bei jugendlichen forensischen Patienten untersucht und dabei unterschiedlich ausgeprägte Risikofaktoren für eine kriminelle Rückfälligkeit festgestellt (siehe Tabelle 2). Hohe Risikoscores wiesen insbesondere Jugendliche mit ADHS und dissozialen Syndromen auf. Auch diese Erkenntnisse zeigen, wie wichtig für den Pädiater oder den Kinder- und Jugendpsychiater Früherkennung und Behandlung von entsprechend auffälligen jungen Patienten sind.




Kinder- und Jugendpsychiater können gelegentlich auf einen jungen Patienten treffen, der im Vorfeld einer nur erwogenen oder tatsächlich ausgeführten Gewalttat nicht unbedingt durch externalisierende aggressive Verhaltensmuster bzw. Alkohol- und Drogenmissbrauch, sondern überwiegend wegen einer internalisierenden Symptomatik wie sozialer Rückzug, einer beginnenden psychotischen Entwicklung, Stimmungsschwankungen und Depressivität, zum Beispiel nach Mobbingerfahrungen, aufgefallen ist. Manchmal konfrontiert ein Patient die Fachleute auch mit Gewaltfantasien. Ein besonderes Risiko stellen speziell Amokereignisse für entsprechend gefährdete, labile Jugendliche dar. Sie erfahren von ihnen aus den Medien und können dadurch zu Nachahmungstaten animiert werden.

Kasuistik

Ein knapp 16-jähriger Gymnasiast, Einzelkind, wird nach mehrmonatiger Schulabsenz und Rückzug aus seinem Freundeskreis mit einem depressiv-suizidalen Syndrom stationär aufgenommen. Bekannt sind bei ihm familiäre Konflikte, ein ca. zweijähriger Cannabiskonsum und eine zunehmend exzessive Internetnutzung. Nach einer Stimmungsaufhellung, auch unter antidepressiver Medikation, berichtet er offenbar erstmals in der Einzeltherapie von seiner schon länger bestehenden Bewunderung für junge Amokläufer und über ähnliche eigene Fantasien, die sich gegen ihn angeblich ablehnende Gleichaltrige richten. Nachweislich hat er sich vor seiner Klinikaufnahme im Internet auch intensiv über Waffen und deren Beschaffung informiert. Zu einer Distanzierung von seinem Planspielen scheint er zunächst kaum bereit und in der Lage zu sein. In Absprache mit seinen Eltern werden Jugendamt und Polizei in diese Problematik ­involviert. Auch mit therapieergänzender Hilfe von psychologisch geschulten Beamten aus dem Polizeipräsidium München, die sich mit Risikoanalyse und Bedrohungsmanagement befassen, gelingt es im Verlauf mehrerer Monate schließlich, den bei diesen Maßnahmen kooperierenden Patienten aus seiner gedanklichen Einengung zu lösen, psychisch deutlich zu stabilisieren und sozial wieder zu integrieren.

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie leistet vor allem durch Früherkennung und Behandlung einen wichtigen Beitrag zur Primär- und ­Sekundärprävention von dissozial-delinquenten Patientenkarrieren. Quasi zur tertiären Prävention gibt es in Bayern neben einer klinischen Einrichtung für junge, straffällige Suchtpatienten (§ 64 StGB) in Parsberg inzwischen seit einigen Jahren eine eigene jugendforensische Klinik­abteilung für Patienten, die nach § 63 StGB untergebracht werden müssen. In Kooperation mit der Erwachsenenforensik werden in Regensburg psychisch kranke, jugendliche Täter behandelt, die aufgrund erheblich verminderter oder aufgehobener Schuldfähigkeit (§§ 20 und 21 StGB) wegen schwerer Straftaten wie Sexualdelikten, Brandstiftung oder Tötungsdelikten in den Maßregelvollzug eingewiesen werden.

Prävention von Sexualdelinquenz bei paraphilen Männern

Paraphilie und paraphile Störung – Definition und Behandlungsansätze

Sexualdelinquenz (Neigung zu strafrechtlich geahndetem Sexualverhalten) führt zu schwerwiegenden Traumatisierungen der Opfer, seien es Kinder, Frauen oder andere Personen, und wird in der Öffentlichkeit als besonders erschreckende und verabscheuenswürdige Form der Kriminalität angesehen. Ein wesentlicher Anteil der Sexualdelikte wird durch Personen begangen, bei denen eine Paraphilie besteht. Von einer Paraphilie spricht man gemäß DSM-5, wenn intensive sexuelle Neigungen bestehen, die sich nicht auf Handlungen an und mit phänotypisch normalen, körperlich erwachsenen und einwilligenden Menschen beziehen, ohne notwendigerweise Leidensdruck zu verursachen. Eine paraphile Störung liegt demgegenüber gemäß ICD-11 (und auch DSM-5) dann vor, wenn aufgrund einer solchen Sexualpräferenz Handlungen vorgenommen worden sind oder die betroffene Person durch diese Neigung wesentlich belastet wird. Es ist keineswegs davon auszugehen, dass bei allen Sexualstraftätern eine Paraphilie oder eine paraphile Störung besteht, jedoch ist ihr Anteil gegenüber der nicht straffälligen Bevölkerung deutlich erhöht, wobei die häufigsten Paraphilien die Pädophilie und der sexuelle Sadismus sind. Auch kann keinesfalls davon ausgegangen werden, dass das Vorliegen einer Paraphilie oder einer paraphilen Störung in jedem Fall zu einer Straftat führt, vielmehr werden paraphile Fantasien nur in einem sehr kleinen Anteil der Fälle tatsächlich in der Realität umgesetzt. Besteht jedoch ein Leidensdruck oder die Gefahr, dass Delikte begangen werden könnten, so ist eine Behandlung indiziert. Grundsätzlich erfolgt die Behandlung entsprechend der internationalen Leitlinie zur Therapie paraphiler Störungen, in einem fünfstufigen Behandlungsalgorithmus [6]. Auf der ersten Stufe wird angestrebt, paraphile sexuelle Fantasien und Verhaltensweisen mithilfe von Psychotherapie unter Kontrolle zu bringen und zu halten. Auf der zweiten Stufe der Behandlung werden psychotherapeutische Maßnahmen durch die Gabe von Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) unterstützt. Auf der dritten Stufe werden antiandrogene Medikamente zur Triebdämpfung eingesetzt (Cyproteronacetat) und auf der vierten Stufe werden androgendeprivierende Mittel gegeben (GnRH-Analoga, Triptorelin/Leuprorelin). Bei ­katastrophalem Verlauf kann auf der fünften Stufe gemäß internationaler Leitlinie eine Kombination der vorgenannten therapeutischen Maßnahmen erfolgen, bis Behandlungserfolg eintritt.

Spezifische Behandlung bei Pädophilie und pädophiler Störung

Insbesondere Sexualdelinquenz gegenüber Kindern im Sinne des sexuellen Kindesmissbrauchs ist in den letzten Jahren zunehmend in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses getreten. Ein wesentlicher Anteil des sexuellen Kindesmissbrauchs an Kindern und Jugendlichen (ca. ein Drittel bis die Hälfte) wird durch Männer begangen, die eine pädophile bzw. hebephile ­Sexualpräferenz haben, das heißt, bei denen eine sexuelle Erregung vorwiegend durch kindliche bzw. jugendliche Körperschemata ausgelöst wird. Bei den verbleibenden Missbrauchstätern ist eine hohe Prävalenz anderer psychiatrischer ­Erkrankungen beschrieben worden, wobei Persönlichkeitsstörungen an erster Stelle stehen, aber auch andere Erkrankungen wie Schizophrenien und Intelligenzminderungen eine wichtige Rolle spielen.

Es ist bekannt, dass nur eine Minderheit der Personen, die eine pädophile oder hebephile Sexualpräferenz haben, tatsächlich Missbrauch begehen oder strafrechtlich auffällig werden. Viele der Betroffenen leiden an ihrem Gefühl, zu Kindern hingezogen zu sein, und sind sehr daran interessiert, Wege zu finden um sexuelle Übergriffe gegen Kinder zu vermeiden. Für diese Gruppe wurde ein spezifisches Präventionskonzept entwickelt und ein Behandlungsnetzwerk etabliert, das bundesweit in spezialisierten Ambulanzen Unterstützung anbietet. Hiervon werden in Bayern mit Unterstützung des Staatsministeriums der Justiz (StMJ) drei Standorte betrieben (Sozialstiftung Bamberg, LMU Klinikum/München und Regensburg – Kontaktadressen siehe oben). Dieses Angebot richtet sich zunächst an Personen, die noch nicht strafrechtlich verfolgt werden, jedoch in der Vergangenheit möglicherweise ­bereits Übergriffe begangen oder Missbrauchsabbildungen genutzt haben (Präventionsprojekt Dunkelfeld, PPD). Eine Besonderheit dieses Behandlungsprogramms ist, dass die Behandlung ohne die Preisgabe der Identität aufgenommen werden kann, um die Schwelle für das Aufsuchen dieser Hilfe zur Rückfallvermeidung möglichst niedrig zu halten und damit einen maximalen Präventionserfolg und Schutz der Bevölkerung zu erreichen.

Seit 2023 wurde das Angebot in Bayern in einem zweiten, separaten Projekt über das Dunkelfeld hinaus ebenfalls auf Personen erweitert, gegen die bereits ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist, die aber noch nicht verurteilt wurden (Hellfeld), da für diese Personengruppe eine Versorgungslücke bestand.

Die Behandlung in den Präventionsambulanzen umfasst Behandlung auf allen genannten Stufen der Therapieleitlinie. Eine wichtige Grundlage für die Arbeit ist hierbei die Berliner Dissexualitätstherapie (BEDIT 6). Es handelt sich um eine manualisierte Therapieform, in der eine multimodale Therapie im Einzel- und Gruppensetting vorgesehen ist. Der präventive Ansatz basiert hierbei auf dem Grundsatz der biopsychosozial begründeten drei Säulen der Therapie:

1.    sexualtherapeutische Intervention zur Unterstützung der Akzeptanz der sexuellen Neigung, Integration der Fantasien in das Selbstkonzept der Patienten und Verantwortungsübernahme für das eigene Sexualverhalten.

2.    kognitiv-behaviorale Therapie zur Verbesserung allgemeiner und sexueller Selbst­regulation, Hinterfragen missbrauchsbegünstigender Einstellungen zur Sexualität, Etablierung und Stärkung positiver Bewältigungsstrategien sowie sozialer Kompetenzen.

3.    Modulation sexueller Impulse und Fantasien gegebenenfalls durch Psychopharmakotherapie – entsprechend der Stufen 2/3/4 gemäß internationaler Leitlinie.

Auf der ersten Stufe anzusiedeln sind die psychotherapeutischen Interventionen, die im Rahmen der Präventionsambulanzen auf breiter Ebene angewendet werden. Es handelt sich hierbei um Psychoedukation, Förderung der Akzeptanz und Motivation, kognitive Verhaltenstherapie, Umgang mit Wahrnehmung und Emotionen, sexuelle Fantasien und Handlungen, Empathie und Perspektivenübernahme, Biografiearbeit, Schulung der Problemlösungskompetenz, Schulung des Interaktionsverhaltens/Rollenspiele, Konzept von und Umgang mit Intimität, Stärkung des Selbstwerts und der Identität sowie spezifische Rückfallvermeidung und Schutzmaßnahmen.

Die Therapie findet in erster Linie als Gruppentherapie statt, die in 13 thematische Module eingeteilt ist, welche über die Zeitdauer etwa eines Jahres vom Patienten im Rahmen einer geschlossenen oder halboffenen Gruppe, mit einer nach Möglichkeit konstanten Teilnehmerzusammensetzung, bearbeitet werden. Im Bedarfsfall werden supportive oder ergänzende Einzelbehandlungen eingefügt. Wenn die strukturierte ­Therapiephase abgeschlossen ist, so wird, angepasst an die individuelle Risikosituation, eine Überleitung in eine niederfrequentere Gruppentherapie vorgenommen, wobei die Möglichkeit therapeutischen Kontakts über längere Zeit gewahrt werden soll.

Präventionsstellen zur Verhinderung einer forensischen Unterbringung – ein Bindeglied zwischen Forensischer Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie

Mit dem Ziel forensisch-psychiatrische Unterbringungen zu verhindern, wurde im Jahr 2012 an der Klinik für Forensische Psychiatrie des Bezirksklinikums Ansbach als Modellprojekt eine Präventionsstelle eingeführt, welche sich an Patienten richtet, die aufgrund einer psychiatrischen Erkrankung ein erhöhtes Risikoprofil aufweisen, Gewalt- oder Sexualstraftaten zu begehen.

Die Präventionsstelle war somit vornehmlich auf Personen ausgerichtet, die an Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis und/oder schweren Persönlichkeitsstörungen litten und deren Schwere der Erkrankung die Voraussetzungen für eine Unterbringung im Maßregelvollzug gemäß §§ 20, 21 und § 63 StGB erfüllen würde.

Als Grundprinzip wurde festgelegt, dass es sich um ein niederschwelliges und freiwilliges Angebot unter Beachtung der Schweigepflicht handelt. Zudem sollte neben dem ambulanten Angebot die Möglichkeit einer aufsuchenden Hilfe bestehen. Durch forensisch-psychiatrische Ansätze sollte für die Allgemeinpsychiatrie die Möglichkeit geschaffen werden, für Hochrisikopatienten eine kriminalpräventive Therapie anzubieten, um eine drohende langjährige Unterbringung im Maß­regelvollzug zu verhindern.  

Durch dieses neue Angebot konnten im weiteren Verlauf bei strikter Einhaltung der Freiwilligkeit und Schweigepflicht ca. 70 Prozent der erfassten Patienten dauerhaft in Behandlung gehalten werden [7]. Das Behandlungsspektrum umfasste unter anderem therapeutische Einzelgespräche, Gruppentherapien und medikamentöse Versorgung. Zudem war die Beratung und Hilfe durch Sozialarbeiter ein integraler Bestandteil der Versorgung. Weitere Besonderheiten stellen der aufsuchende und proaktive Charakter der Präventionsambulanz sowie die enge Zusammenarbeit, unter anderem mit niedergelassenen Ärzten, Allgemeinpsychiatern und Angehörigen der Patienten, dar.

Die Behandlungseffektivität des Modellprojekts konnte nachgewiesen werden, indem die Patienten der Präventionsambulanz Ansbach mit einer Kontrollgruppe mit ähnlichen Eigenschaften verglichen wurde, die „nur“ regelversorgt wurden [8]. Es konnte nachgewiesen werden, dass sich die Gewaltneigung sowie das allgemeine psychosoziale Funktionsniveau der behandelten Patienten im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant verbesserte.

Mittlerweile wurde das Angebot von forensischen Präventionsstellen im Bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz [9] verankert, wodurch ein flächendeckendes Angebot ermöglicht werden konnte. Es wurde festgelegt, dass der Freistaat Bayern die Kosten der Präventionsstellen übernimmt, da aufgrund des spezialisierten Angebots weder Krankenkassen noch andere Institutionen als Kostenträger geeignet erschienen. Präventionsstellen werden mittlerweile in sämtlichen bayerischen Bezirken vorgehalten bzw. befinden sich im Aufbau.

Durch die Präventionsarbeit wird eine Lücke in der Versorgung von schwer psychisch kranken Patienten mit hohem Gewaltrisiko geschlossen. Dies führt in vielen Fällen zur Verhinderung von Gewalt- und Sexualstraftaten sowie zu einer Vermeidung einer langjährigen forensisch-psychiatrischen Unterbringung. Darüber hinaus stellt diese Vorgehensweise den effektivsten Opferschutz dar.

Kasuistik

Es erfolgte die Kontaktaufnahme einer allgemeinpsychiatrischen Klinik zur Präventionsstelle, da ein Patient im Rahmen einer Visite drängende Gedanken über einen erweiterten Suizid geäußert habe. Beim Patienten sei eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis mit zahlreichen Voraufenthalten sowie eine welchselnde Medikamentencompliance bekannt. Bei der ersten Kontaktaufnahme durch die Präventionsstelle wurde dem Patienten das Konzept sowie die Freiwilligkeit der Therapie unter Beachtung der Schweigepflicht dargestellt. Der Patient erklärte sich einverstanden, woraufhin eruiert werden konnte, dass er versucht habe, seine Eigentumswohnung vor einer drohenden Zwangsversteigerung zu verwüsten. Zudem habe er keine Suizidgedanken, sondern konkrete Tötungsfantasien gegenüber dem zuständigen Gerichtsvollzieher. Ferner konnte eruiert werden, dass es sich nicht um psychotisch motivierte Gedanken, sondern die drohende Zwangsversteigerung der Realität entsprach. Als Risikofaktor wurden die Rachefantasien des Probanden vor dem Hintergrund seines finanziellen Abstiegs und einer ungeklärten Wohnsituation eruiert. Darüber hinaus führte die schizophrene Erkrankung des Patienten bei mangelnder Krankheitseinsicht sowie mangelnder Medikamentencompliance zu einer emotionalen Labilisierung dahingehend, diese Fantasien auch in die Tat umsetzen zu wollen. Der Patient konnte motiviert werden, das Angebot der Präventionsstelle wahrzunehmen. Anfangs setzte der Patient seine Medikation mehrfach ab, jedoch konnten Krisen durch Hausbesuche abgefangen werden. Im weiteren Verlauf konnte die Wohnsituation durch Umzug ins betreute Einzelwohnen und die finanzielle Situation durch die erfolgreiche Beantragung einer Erwerbsunfähigkeitsrente gesichert werden. Mittlerweile nimmt der Patient in instabilen Phasen eigenständig Kontakt zur Präventionsstelle auf und begibt sich nach Rücksprache freiwillig in stationäre Behandlung. Zudem ist derzeit im Rahmen von Absprachen mit dem niedergelassenen Psychiater eine regelmäßige antipsychotische Behandlung gesichert.

Die Autoren erklären, dass sie keine ­finanziellen oder persönlichen Beziehungen zu Dritten haben, deren Interessen vom Manuskript positiv oder negativ betroffen sein könnten.

Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Autoren


Professor Dr. Norbert Nedopil 1


Professor Dr. Franz Joseph Freisleder 2


Professor Dr. Joachim Nitschke 3


Professor Dr. Kolja Schiltz 1

1 Abteilung für Forensische Psychiatrie, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum der LMU München

2 Ehem. Ärztlicher Direktor des kbo-Heckscher-Klinikums für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie

3 Bezirkskrankenhaus Straubing, Lerchenhaid 32,94315 Straubing

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