Notarzt werden

Notarzteinsatzfahrzeug

Im Kongresshaus in Garmisch-Partenkirchen geht es lebhaft zu. 110 zumeist junge Ärztinnen und Ärzte auf dem Weg zum Facharzt haben den Kurs „Notfallmedizin“ zum Erwerb der Zusatzbezeichnung bei der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK) gebucht. Neben Vorträgen finden zahlreiche Gruppenarbeiten und praktische Übungen, wie zum Beispiel Training zu schwieriger Intubation, Training zu Herz-Rhythmus-Störungen, Durchführung einer ärztlichen Sichtung, Versorgung von Traumapatienten, Demonstration einer technischen Rettungsübung in Kooperation mit Feuerwehr und Rettungsdienst sowie eine Großeinsatzübung statt. Optional werden zur Teilnahme auf freiwilliger Basis Einsatzübungen mit der Bergrettung angeboten. Die Kursdurchführung basiert dabei auf dem Kursbuch „Notfallmedizin“ der Bundesärztekammer (BÄK) und ist in anderen Kammerbereichen analog anerkannt. So wird das Kongresshaus quasi zum „emergency room“. Von „A wie Airway-Management“ bis „Z wie zentraler Behandlungsplatz“ hat das BLÄK-Fortbildungs-Team rund um Professor (Hochschule für Gesundheit und Sport, Berlin) Dr. Johann-Wilhelm Weidringer, Geschäftsführender Arzt der BLÄK, wirklich ein ambitioniertes Fortbildungsbündel geschnürt.


Abbildung 1: Mega-Code-Training am Rea-Phantom

Reanimation

Privatdozent Dr. Michael Reng, Internist und langjähriger Notarzt aus Kelheim, ist einer von den über 30 Referentinnen und Referenten, die aus den unterschiedlichsten Gebieten bzw. Professionen stammen. Er moderiert das Kapitel „Notfälle I und II/Reanimation“, wobei es unter anderem um Notfallmedikamente im Rettungsdienst, Fallstricke, Interaktionen, Bewusstseinsstörungen oder neurologische Notfälle geht. Geübt wird die Reanimation auch ganz praktisch im „Mega-Code-Training“. Beherzt und engagiert trainieren hier die angehenden Notärzte an „Rea-Modellen“ und geben bereitwillig Antworten auf die Frage, was sie daran reizt, künftig als Notarzt tätig zu sein. „Für mich als angehenden Neurologen gehört das einfach dazu“, meint der junge Arzt S. und seine Nachbarin M. ergänzt ganz offen: „Ich habe jedoch noch großen Respekt vor der Traumatologie. Auch ich befinde mich in der Weiterbildung zur Neurologin.“ Die hochschwangere Kursteilnehmerin A. sieht die Lage eher pragmatisch: „Jetzt in meiner vorgerückten Schwangerschaft habe ich einfach Zeit und deshalb habe ich den Kurs gebucht. Ich mag einfach keinen Leerlauf.“

Katastrophe

Themenwechsel. „Einsatztaktik beim Massenanfall von Verletzten. Aufgaben des Leitenden Notarztes (LNA)“ steht vier Tage später auf der Agenda. Hier geht es beispielsweise um Gefahrgutunfälle und Anschläge, Struktur des Einsatzraumes oder Straßenverkehrsunfälle beim Transport gefährlicher Güter. Ein bisschen stolz ist Weidringer darauf, dass die neue „Richtlinie zur Bewältigung von Ereignissen mit einem Massenanfall von Notfallpatienten und Betroffenen“ (MANV) im Kurs bereits Berücksichtigung findet. Das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr (BayStMI) hatte die MANV-Richtlinie novelliert (www.verkuendung-bayern.de/allmbl/jahrgang:2016/heftnummer:15). Die „MANV-Richtlinie“ sieht ein Konzept zur nichtärztlichen Vorsichtung im Rahmen eines Massenanfalls an Verletzten, Intoxikierten, Erkrankten oder Kontaminierten vor. „Ungewissheit ist eine der zentralen Herausforderungen der Moderne“, so Weidringer. Daher sei eine primäre Coping-Strategie gefragt, was bedeute: Beherrschen oder Reduzieren? Scheitere der Versuch, Ungewissheit in Gewissheit zu verwandeln, so entstehe ein Gefühl der Ohnmacht. Vor diesem Hintergrund und zur Bewältigung von Katastrophenszenarien sei heute die Notwendigkeit eines „veränderten Umgangs mit Ungewissheit“ gegeben.

Terrorlagen

Ein weiteres BayStMI-Konzept, das im Kurs vorgestellt wird, trägt den Namen „Handlungsempfehlungen für Rettungsdiensteinsätze bei besonderen Einsatzlagen/Terror-lagen“ (Rebel). Die Anschläge in Paris im Jahr 2015 und in Brüssel im Jahr 2016 hätten deutlich gemacht, dass Europa und damit auch Deutschland immer mehr in das Fadenkreuz des weltweiten Terrorismus gerate. Die Betrachtung von Rettungsdiensteinsätzen in diesem Zusammenhang habe die Notwendigkeit aufgezeigt, für den Rettungsdienst Bayern Handlungsempfehlungen im Umgang mit solchen Situationen aufzustellen und in Zukunft ständig weiterzuentwickeln. „Damit nicht nur Polizei und Sicherheitskräfte, sondern auch der Rettungsdienst nicht unvorbereitet an solche ‚speziellen Schadenslagen‘ herangehen, wurden durch eine Expertengruppe beim Bayerischen Innenministerium Handlungsempfehlungen zum Umgang mit diesen Situationen erstellt und zur Umsetzung empfohlen“, sagt Weidringer. Aus medizinischer Sicht unterscheide sich ein derartiger Einsatz unter potenziell unsicheren Bedingungen ganz wesentlich von einer Verletztenversorgung beim vertrauten Routineeinsatz. Die Besonderheiten der sogenannten „taktischen Medizin“ mit Schwerpunkt „stop the critical bleeding“ als Elementarmaßnahme bei Schuss- und Explosionsverletzungen vor Ort seien auch anhand der Erfahrungen nach den Attentaten in Paris und beim Boston-Marathon eindrucksvoll. Zu „Rebel“ gehöre auch die landesweit neu beschaffte Ausrüstung für solche Schadenslagen, die Tourniquets zur schnellen Abbindung oder spezielle blutstillende Wundgazen, die künftig auf jedem Rettungswagen vorgehalten werden. Ein weiterer Schwerpunkt des „Rebel“-Konzepts liege auf der Kommunikation, der ständigen Lagebewertung und der engen Abstimmung zwischen Polizeiführung, Leitstelle und Sanitätseinsatzleitung vor Ort. Dazu sollten beispielsweise von der Leitstelle bereits vorab Verbindungskräfte zur Polizeieinsatzzentrale benannt sein, die im Einsatzfall die entsprechende Informationsweitergabe steuerten.

Da unsere Welt wohl nicht friedlicher werden wird, tun wir gut daran, die künftigen Notärztinnen und -ärzte rechtzeitig mit dem rettungsdienstlichen Management solcher Terrorlagen gedanklich darauf – so gut es geht – vorzubereiten. Auch wenn eine reale Gefahr in Bayern eher abstrakt erscheinen mag, so sollten die Ereignisse von München, Würzburg oder Ansbach – und jetzt auch Berlin – zumindest unser „Gefahrenradar“ schärfen.

Mit einem ziemlich guten Gefühl fahre ich mit der Regionalbahn von Garmisch-Partenkirchen wieder zurück in die Redaktion nach München. An nachkommenden qualitativ gut trainierten Notärztinnen und -ärzten mangelt es uns also nicht, vorausgesetzt, die jungen Ärztinnen und Ärzte kommen dann auch wirklich einmal in der Patientenversorgung an. Diese 110 Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer wollen jedenfalls Notarzt werden.

Sowohl die „MANV-Richtlinie“ als auch das „Rebel“-Konzept liegen der Redaktion vor. Berechtigte Interessenten (Notärzte) können die Unterlagen über den Landesbeauftragten Ärztlicher Leiter Rettungsdienst (Landesbeauftragter(at)aelrd-bayern.de) anfragen.


Einsatzfahrzeug

Drei Fragen an Dr. Michael Bayeff-Filloff, Landesbeauftragter Ärztlicher Leiter Rettungsdienst (ÄLRD) in Bayern, Oberfeldarzt Dr. Björn Hossfeld, und Privatdozent Dr. Michael Reng zu REBEL, alle Notärzte und Fortbildungsreferenten.

1. Das BayStMI stellte jüngst Handlungsempfehlungen für besondere Lagen im Rettungsdienst vor. Was bedeutet das konkret für Notärztinnen und Notärzte?
Bayeff-Filloff: REBEL erweitert die Ausstattung der Notfallrettungsmittel unter anderem um Tourniquets, Hämostyptika und lange Thoraxpunktionsnadeln. Beckenschlinge und intraossärer Zugangsweg (EZ-io) werden nun flächendeckend auch auf den Rettungswagen (RTW) vorgehalten. Von allen Notärztinnen und Notärzten ist hier der sichere Umgang mit dieser Ausstattung gefordert. Dies ist nach ersten Erfahrungsberichten zu den Tourniquets durchaus anspruchsvoll.

Hossfeld: Die im REBEL-Konzept genannten Ausrüstungsgestände sind nicht grundsätzlich neu, sondern gehörten bisher lediglich im zivilen Rettungs- und Notarztdienst in Bayern nicht zur Routineausstattung, da die Versorgung von penetrierenden Verletzungen (zum Beispiel Schuss- und Stichwunden) die absolute Ausnahme darstellte. Sollte es in Einzelfällen einmal zu solchen Verletzungen gekommen sein, gab es genügend Zeit, sich um diesen besonderen Patienten zu kümmern. Unter der aktuellen Bedrohungslage jedoch muss zeitgleich mit einer Vielzahl solcher Patienten gerechnet werden. Militärische Sanitätsdienste (der Bundeswehr, aber vor allem ausländischer Armeen) haben deshalb schon lange das zeitkritische Stoppen bedrohlicher Blutungen im Fokus. Tourniquets zum Abbinden der Blutversorgung bei stark blutenden Extremitäten bieten dabei nur einen Ansatzpunkt – mit der Vorhaltung dieser Hilfsmittel ist es allerdings nicht getan. Wie die gerade von der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie & Intensivmedizin (DGAI) veröffentlichte Handlungsempfehlung zur „Prähospitalen Anwendung von Tourniquets“ im zivilen Rettungsdienst aufzeigt, ist der Einsatz durchaus mit Fehlern behaftet und bedarf einer entsprechenden Schulung der Notärzte sowie des rettungsdienstlichen Fachpersonals. Ähnlich verhält es sich mit anderen im REBEL-Set vorgesehenen Ausrüstungsgegenständen (wie Hämostyptika und Nadeln zur Entlastungspunktion des Brustkorbs), mit denen weder Notärzte noch Rettungsdienste Erfahrung und Routine haben.

Reng: Die Arbeitsgemeinschaft in Bayern tätiger Notärzte (agbn) hat in den vergangenen Jahren bereits mehrfach Seminare zur „Taktischen Medizin“ im Rahmen ihrer Fortbildungsveranstaltungen angeboten, die schon vor der Zunahme der terroristischen Bedrohung von den Notärzten mit großem Interesse angenommen wurden. Natürlich wird das REBEL-Konzept in diese Kurse eingebunden.

2. Es geht nicht ausschließlich um neue Ausrüstungsgegenstände, sondern auch um eine geänderte Einsatztaktik?
Bayeff-Filloff: Nein, REBEL legt weitere Schwerpunkte auf eine verbesserte Kommunikation aller Einsatzkräfte in schwierigen Sicherheitslagen und eine teilweise angepasste Änderung der Einsatztaktik. So wird empfohlen, durch zusätzliche Verbindungskräfte unmittelbar bei Polizei und in den Leitstellen die Gefährdungslage möglichst schnell und optimal mit den Rettungsdiensten zu kommunizieren, um eine Gefährdung der Einsatzkräfte so gering wie möglich zu halten. Weiter kann zum Beispiel auf die Einrichtung herkömmlicher Bereitstellungsräume verzichtet werden; die Rettungsmittel sollen mit einer sogenannten Ringbereitstellung um den Schadensort verteilt werden. Auch dies dient der Sicherheit der Einsatzkräfte.

Hossfeld: Die Ausbildung in der Handhabung der neuen Ausrüstung reicht nicht, um im Falle einer Terrorlage, wie wir sie in Oslo, Paris, Nizza, Brüssel und zuletzt in Berlin erlebt haben, richtig zu handeln. Die Erfahrung anderer Nationen mit Terroranschlägen bestätigt vielfach das Risiko eines Zweitschlages („2nd hit“), um die Helfer an der Einsatzstelle ebenfalls zu treffen. Deshalb müssen Notärzte, Rettungsassistenten, Polizisten und Feuerwehrleute mit einer neuen Strategie an die Einsätze herangehen: Unter dem Motto „Clear the Scene“ müssen Einsatzkräfte Patienten möglichst schnell von der Einsatzstelle entfernen, um die Versorgung erst in einem wenigstens teilsicheren Bereich zu beginnen. Hier gibt REBEL erste Empfehlungen, die aber ebenfalls ohne spezielle taktische Schulung und überregionale Abstimmung aller Beteiligten kaum umsetzbar erscheinen. Um eine entsprechende bundesweite Abstimmung zwischen medizinischer und technischer Rettung einerseits und den Sicherheitsbehörden andererseits zu erzielen, wurde auf Einladung der Arbeitsgruppe „Taktische Medizin“ der DGAI bereits im September 2016 ein Konsensusgespräch „Rettungsdienst bei Terrorlagen“ initiert, dessen zweites Treffen im Januar 2017 am Bundeswehrkrankenhaus Ulm stattfand.

3. Wie bewerten Sie REBEL?
Bayeff-Filloff: REBEL ist bundesweit die erste Vorgabe einer obersten Rettungsdienstbehörde in Reaktion auf die tragischen Ereignisse der letzten Zeit. Das Konzept wird laufend weiterentwickelt werden. Mit Blick auf die Sicherheit der Einsatzkräfte und bestmögliche Versorgung unserer Patienten in den genannten besonderen Einsatzlagen ist es ein notwendiger und inhaltlich richtiger Schritt.

Reng: Die Handlungsempfehlungen des BayStMI sind ein begrüßenswerter und erfreulich rascher Schritt der Politik, um den Rettungsdienst in Bayern auch auf Einsätze im Rahmen terroristischer Bedrohung vorzubereiten. Bei der geplanten und erforderlichen Weiterentwicklung sollten aber alle potenziell Beteiligten eingebunden und ein besonderes Augenmerk auf die flächendeckende und zeitnahe Schulung im Umgang mit den neuen Techniken und Strategien gelegt werden.

Dagmar Nedbal (BLÄK)

 

 

Top