Operative Intensivmedizin – highlighted
"Zwei Monate habe ich mein Leben mit Herrn R. geteilt – doch gesehen habe ich ihn nie. Ein Paravent stand zwischen seinem und meinem Bett. Reden konnten wir auch nicht miteinander, denn wir hatten beide einen Luftröhrenschnitt. Nur einmal, als er im Reha-Stuhl saß, der „Thekla“ hieß – ein allgegenwärtiger Name –, lugte sein Fuß neben dem Paravent hervor. Diese unerwartete Abwechslung war einer der Höhepunkte der Wochen im April.“
Susanne Schneider
„Hurra, ich lebe noch! Erinnerungen an eine Zeit zwischen Licht und Schatten“,
Süddeutsche Zeitung Magazin, 2006
Kontrolle, Aufrechterhaltung und Wiederherstellung lebensbedrohlich gestörter Vitalfunktionen durch den Einsatz aufwändiger Verfahren kennzeichnen die moderne operative Intensivmedizin. Sie greift dabei oft tief in die Autonomie des Patienten ein und erfordert ein ausgeprägtes Verständnis pathophysiologischer Zusammenhänge und eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit.
Fall 1
Vorgeschichte
Bei einer 78-jährigen Patientin mit 2-Gefäß-KHK in der Vorgeschichte wurde bei perforierter Sigmadivertikulitis notfallmäßig eine Diskontinuitätsresektion nach Hartmann durchgeführt. Postoperativ wurde die Patientin intubiert, analgosediert und katecholaminpflichtig auf die Intensivstation übernommen.
Weiterer Verlauf
Nach kardiozirkulatorischer Stabilisierung wurde die Patientin am Morgen des zweiten postoperativen Tages extubiert. Fünf Stunden später war sie immer noch schläfrig, nahm auf Ansprache nur kurz Kontakt auf und sprach lediglich einzelne zusammenhanglose Worte. Daraufhin wurde ein Delir-Screening mittels der Confusion-Assessment-Method für Intensivstationen (CAM-ICU) durchgeführt. Bei diesem kurzen standardisierten Test wird der Patient auf vier Merkmale des Delirs getestet:
1. akuter Beginn und schwankender Verlauf der psychischen Veränderung,
2. Aufmerksamkeitsstörung,
3. Bewusstseinsveränderung,
4. unorganisiertes Denken.
Bei der Patientin waren die mentalen Veränderungen im Vergleich zu präoperativ akut aufgetreten, denn aus ihrer Vorgeschichte waren keine psychiatrischen Erkrankungen und insbesondere keine Demenz bekannt.
Im zweiten Schritt wurde die Aufmerksamkeit der Patientin überprüft, indem die Buchstaben A N A N A S B A U M vorgelesen wurden und die Patientin zuvor aufgefordert worden war, bei jedem „A“ die Hand des Untersuchers zu drücken. Die Patientin drückte nur bei den ersten beiden Buchstaben die Hand, schloss dann die Augen und schien einzuschlafen, was vier Fehler in diesem Teiltest bedeutete. Bei weniger als drei Fehlern hätte ein Delir ausgeschlossen werden können und der Testablauf wäre an dieser Stelle zu Ende.
Bei mehr als drei Fehlern wird im dritten Schritt der CAM-ICU nach einer Bewusstseinsveränderung gefahndet und hierzu die Richmond-Agitation-Sedation-Scale (RASS) eingesetzt (siehe Tabelle 1). Jeder andere Wert als null weist auf ein Delir hin. Da die Patientin auf Ansprache jeweils nur etwa eine halbe Minute erwachte (entspricht einem RASS-Wert von -1), war der CAM-ICU-Test somit positiv für ein Delir.
Bei einem RASS-Wert von null, wären im vierten Schritt noch Fragen zur Erkennung von Denkstörungen nötig (zum Beispiel: Schwimmt ein Stein auf dem Wasser?), um ein Delir zu bestätigen oder auszuschließen.
In der folgenden Nacht war die Patientin psychomotorisch unruhig, ohne Hinweis auf Schmerzen oder eine organische Problematik. Zur Dämpfung der Agitation wurde das atypische Antipsychotikum Quetiapin und der α2-Adrenozeptor-Agonist Dexmedetomidin verabreicht, die jedoch nur eine mäßige Wirkung zeigten. Tagsüber konnte die Delirsymptomatik durch vermehrte Mobilisation aus dem Bett und die Anwesenheit der Tochter gebessert werden. Nachts war die Patientin jedoch weiter agitiert, rief um Hilfe, entfernte sich den Blasenkatheter und versuchte das Bett zu verlassen. Mit titrierender Haloperidolgabe konnte die Agitation schließlich soweit gedämpft werden, dass keine Fixierung mehr nötig wurde. Am sechsten postoperativen Tag war das Delir soweit abgeklungen, dass die Patientin auf die Normalstation verlegt werden konnte. Beim Besuch wenige Tage später berichtete die wieder vollständig orientierte Patientin, dass sie keinerlei Erinnerung an den Aufenthalt auf der Intensivstation habe.
Diskussion
Das Delir ist die häufigste postoperative Komplikation des alten Menschen. Bei Intensivpatienten beträgt die Inzidenz über 50 Prozent [1]. Es handelt sich um eine klinische Diagnose, die durch eine akute Störung des Bewusstseins (zum Beispiel Schläfrigkeit), der Aufmerksamkeit und der Kognition (zum Beispiel Desorientiertheit) charakterisiert ist und im Tagesverlauf fluktuiert [2]. Patienten mit hyperaktiver Form sind unruhig, aggressiv und können halluzinieren. Lethargie und Verlangsamung kennzeichnen hingegen die häufigere hypoaktive Form. Oft ist der Tag-Nacht-Rhythmus gestört, manchmal kann ein auffällig vermindertes Schmerzempfinden beobachtet werden.
Grundsätzlich können kritische Erkrankungen jeder Genese und in jedem Alter zu einem Delir führen, welches mit erhöhter Sechs-Monats-Mortalität, verlängerter Krankenhausverweildauer und länger anhaltender neurokognitiver Beeinträchtigung assoziiert ist [3].
Eine Vielzahl von Risikofaktoren für die Entstehung eines Delirs ist bislang identifiziert worden, wobei hohes Alter und Benzodiazepine mit einem besonders hohen Risiko vergesellschaftet sind [4]. Zu den weiteren beeinflussbaren Risikofaktoren zählen zudem Immobilisierung, Fixierung, Ortswechsel und Tageslichtmangel. Der pathophysiologische Mechanismus der Delirentstehung ist immer noch nicht vollständig geklärt. Eine Dysbalance zwischen den Neurotransmittern Acetylcholin und Dopamin sowie inflammatorische Mediatoren scheinen wichtige Rollen zu spielen [5].
Es ist bekannt, dass ohne regelmäßiges Screening mit einem validierten Test wie der CAM-ICU insbesondere das hypoaktive Delir im klinischen Alltag oft unbemerkt bleibt. Die mentalen Veränderungen werden nicht selten als vermeintlich normaler Teil der Rekonvaleszenz oder als Narkotikaüberhang verkannt.
Das Delir-Screening kann nach entsprechender Schulung sowohl von Ärzten als auch von Pflegekräften durchgeführt werden. Bevor die eigentliche CAM-ICU durchgeführt werden kann, muss das Sedierungsniveau bestimmt werden. Dafür eignet sich beispielsweise die Richmond-Agitation-Sedation-Scale (RASS). Bei tiefer Sedierung (RASS -4 oder -5) kann die Testung nicht sinnvoll durchgeführt werden. Laborchemische oder apparative Untersuchungen spielen bei der Delirdiagnostik keine vorrangige Rolle.
Zur Therapie des Delirs kommen häufig Haloperidol und atypische Neuroleptika (Off-Label-Use beachten) zum Einsatz, obwohl es keine sichere Evidenz für deren Effektivität gibt und die routinemäßige Gabe weder zur Prävention noch zur Therapie empfohlen ist [4]. In einer großen randomisiert kontrollierten Studie von 2018 konnten weder Haloperidol noch das atypische Neuroleptikum Ziprasidon die Delirdauer im Vergleich zu Placebo beeinflussen [6]. Bei der symptomorientierten Therapie psychotischer Symptome haben Neuroleptika aber dennoch einen Stellenwert beim Delir. Neben den dafür vorranging eingesetzten α2-Agonisten eignen sie sich auch zur Dämpfung starker Agitation um den Einsatz von Sedativa und Fixierungsmaßnahmen zu vermindern.
Zu den Hauptpfeilern der Delirprävention und -therapie gehört das Erkennen und Minimieren von beeinflussbaren Risikofaktoren mit nicht-pharmakologischen Maßnahmen. Idealerweise werden diese Maßnahmen in ein Gesamtkonzept zum Management von Schmerz, Agitation und Sedierung eingebunden. Die aktuelle Leitlinie der amerikanischen Fachgesellschaften zum Thema widmet erstmals auch den Themen Immobilisation und Schlafstörungen auf der Intensivstation eigene Kapitel [4].
Wichtige Empfehlungen lauten:
» Tagsüber für kognitive Stimulation sorgen: zum Beispiel liberale Besuchszeiten für Angehörige;
» Reorientierende Maßnahmen ergreifen: zum Beispiel Uhr und Kalender in Sichtweite;
» Sedierung so flach wie möglich halten, Benzodiazepine möglichst vermeiden;
» Schlaf verbessern: Geräusche und Licht nachts minimieren;
» Frühe Mobilisierung im oder außerhalb des Betts;
» Benötigte Hör- und Sehhilfen zur Verfügung stellen.
So aufwändig ein effektives Delirmanagement im klinischen Alltag auch sein mag, es ist nötig, um schwerwiegende Folgen abzuwenden: so konnte die Implementierung eines ganzen Maßnahmenbündels bei über 6.000 Patienten deren Anzahl delirfreier Tage und deren Überlebenswahrscheinlichkeit signifikant steigern [7].
Fall 2
Anamnese
Ein 45-jähriger Patient stellte sich selbstständig in der medizinischen Notaufnahme vor. Er habe nach einer Fahrradtour Fieber und Schüttelfrost bekommen und mehrfach erbrochen. Die Lebensgefährtin berichtete zudem von einer beginnenden Vigilanzminderung, die sie veranlasst habe, ins Krankenhaus zu fahren. Bereits in der Notaufnahme präsentierte sich der Patient deutlich hypoton, sodass eine Katecholamintherapie mit Noradrenalin begonnen werden musste und eine Übernahme auf unsere Intensivstation initiiert wurde. Nach Abnahme von Blutkulturen peripher und über das wegen vorangegangener Chemotherapien einliegende Portsystem wurde mit einer antibiotischen Therapie mit Piperacillin/Tazobactam begonnen.
An Vorerkrankungen war ein Rezidiv eines extranodalen NK-T-Zell-Lymphoms vom nasalen Typ (Stadium IIE) bekannt. Der Patient sprach gut auf die Rezidivchemotherapie an, sodass eine allogene Stammzelltransplantation mit kurativer Zielsetzung zeitnah geplant war.
Verlauf
Nach Aufnahme präsentierte sich der Patient trotz Volumentherapie, die mit erweitertem hämodynamischem Monitoring (Thermodilution und Pulskonturanalyse) gesteuert wurde, zunehmend katecholaminpflichtig. Bei einem sehr hohen und weiter steigenden Noradrenalinbedarf von bis zu 70 µg/min wurde die Therapie um Arginin-Vasopressin ergänzt. Ebenso erweiterten wir die antibiotische Therapie nach Gewinnung erneuter mikrobiologischer Proben auf Meropenem und Vancomycin. Supportiv wurde aufgrund der kritischen Kreislaufsituation noch Hydrocortison, Fludrocortison und Vitamin C zur Sepsistherapie angesetzt. Laborchemisch zeigte sich ein deutlich erhöhtes Procalcitonin (81,9 ng/ml) und Interleukin-6 bei Leukopenie (< 0,1 G/l). Der Sequential-(Sepsis-Related)-Organ-Failure-Assessment-Score (SOFA-Score – siehe Tabelle 2) betrug 17 Punkte. Der Patient musste bei zunehmender respiratorischer Erschöpfung intubiert werden. Ebenso wurde bei Anurie und zunehmender Azidose eine kontinuierliche veno-venöse Hämodialyse (CVVHD) begonnen. In den aus dem Port und peripher abgenommenen Blutkulturen konnte ein auf Piperacillin/Tazobactam sensibler Escherichia coli nachgewiesen werden, sodass die antibiotische Therapie testgerecht deeskaliert werden konnte. Da der Port erst wenige Tage zuvor zur Chemotherapie genutzt worden war, stellte er eine potenzielle Eintrittspforte für den Infekt dar. Bei fulminant verlaufendem gram-negativem Blutstrominfekt wurde die Entscheidung zur Entfernung des Systems getroffen, was problemlos bettseitig durchgeführt wurde.
Unter den oben genannten Maßnahmen konnten die Katecholamine deutlich reduziert und die Arginin-Vasopressin-Therapie am vierten Behandlungstag komplett beendet werden. Auffallend war jedoch eine schon am ersten Behandlungstag beginnende und dann fortschreitende livide Verfärbung der Akren sowohl an oberer als auch an unterer Extremität. Nach Demarkierung der Nekrosen musste eine beidseitige Unterschenkelamputation durchgeführt werden. An beiden Händen wurden die Finger D 2-5 im Metacarpophalangealgelenk amputiert. Durch Amputation auf Höhe des Interphalangealgelenks konnten zumindest Restdaumen auf beiden Seiten erhalten werden. Nach 59 Tagen Intensivtherapie konnte der Patient in gutem Allgemeinzustand in eine auf Amputationsbehandlung spezialisierte Rehaklinik entlassen werden. Nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahmen stellte sich der Patient in gutem Allgemeinzustand eigenständig auf seinen Prothesen mobil zur weiteren Therapieplanung in der hämatoonkologischen Abteilung vor. Nach erneutem Staging mit Nachweis einer kompletten Remission wurde der Patient sieben Monate nach fulminantem septischen Schock allogen stammzelltransplantiert.
Diskussion
Nachdem Sepsis 1991 erstmalig im Rahmen einer internationalen Konsensuskonferenz definiert wurde (Sepsis-1 [8]) und die Definition 2003 noch einmal modifiziert wurde (Sepsis-2 [9]), veröffentlichte die amerikanisch-europäische Sepsis-Definitions-Task-Force im Februar 2016 die dritte internationale Konsensusdefinition [10]. Hierbei ist eine wichtige Änderung der Wegfall der „Systemic Inflammatory Response Syndrome (SIRS)“-Kriterien zur Diagnose der Sepsis. Stattdessen wird die Organdysfunktion in den Vordergrund gestellt und der SOFA-Score zur Diagnosestellung als Schlüsselelement implementiert (siehe Tabelle 2). Entsprechend wurde der Begriff der „schweren Sepsis“, die gemäß Sepsis-2 als eine Sepsis mit Organbeteiligung charakterisiert war, abgeschafft. Es wird seither nur noch zwischen Sepsis und septischem Schock unterschieden (siehe Tabelle 3). Die Sepsis wird nun als lebensbedrohliche Organdysfunktion aufgrund einer fehlregulierten Körperantwort auf eine Infektion definiert. Die Organdysfunktion kann durch einen Anstieg des SOFA-Scores um zwei Punkte identifiziert werden. Ein SOFA-Score von mindestens zwei Punkten geht mit einer Gesamtmortalität von etwa zehn Prozent einher. Bei Patienten ohne bekannte, vorbestehende Organdysfunktion kann der Ausgangs-SOFA-Score als null angenommen werden. Die Diagnose des septischen Schocks, der mit einer Gesamtmortalität von 40 Prozent einhergeht, erfordert die Erfüllung von zwei Kriterien:
» Notwendigkeit einer Vasopressorgabe zur Aufrechterhaltung eines mittleren arteriellen Drucks > 65 mmHg
» Serumlaktat von > 2 mmol/l trotz adäquater Volumenzufuhr vorhanden.
Nach der Einführung der neuen Sepsis-Definition veröffentlichte 2017 auch der Leitlinienausschuss der Surviving Sepsis Campaign eine neue Leitlinie zur Behandlung der Sepsis [11]. Diese wurde 2018 noch durch die Einführung des Ein-Stunden-Bündels als Zusammenfassung der ehemaligen Drei- und Sechs-Stunden-Bündel ergänzt [12]. Ziel dieses Bündels ist die Outcome-Verbesserung durch eine schneller eingeleitete Diagnosestellung und Therapie (Tabelle 4).
Im Fall des Patienten ließ sich die bereits laborchemisch vermutete Infektion auch mikrobiologisch bestätigen. Der initiale SOFA-Score betrug 17 Punkte. Damit war der geforderte Anstieg um zwei Punkte deutlich überschritten und von einer schweren Dysfunktion mehrerer Organsysteme auszugehen. Mit der zudem notwendigen Vasopressortherapie und dem deutlich erhöhten Laktat waren alle Kriterien des septischen Schocks erfüllt. Wie in der Leitlinie empfohlen wurde die primäre Katecholamintherapie mit Noradrenalin durchgeführt und bei steigendem Bedarf um Arginin-Vasopressin ergänzt (schwache Empfehlung). Der Benefit einer zusätzlichen Vasopressintherapie ließ sich in Studien bisher nicht eindeutig beweisen. Auch in einer großen randomisiert kontrollierten Studie, dem Vasopressin And Septic Shock Trial (VASST) konnte kein Vorteil im Studienkollektiv nachgewiesen werden. Nur in der Subgruppe, die weniger als 15 µg/kg/min Noradrenalin erhielt, konnte ein Überlebensvorteil gezeigt werden [13]. Auch für die Gabe von Cortison im Rahmen der Sepsis besteht nur eine schwache Empfehlung im Rahmen der Leitlinie. Vorteilhafte Effekte scheinen für eine Kombination von Hydrocortison mit Fludrocortison zu bestehen [14].
Die hochdosierte intravenöse Gabe von Vitamin C (im Bereich von mehreren Gramm pro Tag) wird mit positiven Effekten auf die Inflammation in der Sepsis in Zusammenhang gebracht. Bei kurzfristiger Gabe ist zudem nicht mit relevanten Nebenwirkungen zu rechnen. Die Datenlage zum Nutzen ist jedoch noch nicht ausreichend. In einer ersten großen Doppelblindstudie von 2019 konnte in den primären Endpunkten SOFA-Score, C-reaktives Protein und Thrombomodulin kein Unterschied zugunsten von Vitamin C gefunden werden. In mehreren sekundären Endpunkten wie 28-Tage-Sterblichkeit, Tage ohne Beatmung und Tage außerhalb der Intensivstation zeigten sich Vorteile in der Vitamin-C-Gruppe [15]. Weitere große Studien zur supportiven Sepsistherapie sind hier jedoch unabdingbar.
Fall 3
Anamnese
Ein 73-jähriger Patient wurde notfallmäßig aufgenommen, nachdem es beim elektiven Versuch einer Aortenklappenimplantation via Katheter zu einer schweren Blutung aus der A. iliaca rechts mit kurzzeitiger Reanimation gekommen war. Neben der drittgradigen Aortenklappenstenose mit Herzinsuffizienz NYHA III litt der Patient unter Diabetes mellitus und unter chronischen Kniebeschwerden, sodass er auf den Rollstuhl angewiesen war.
Verlauf
Nach notfallmäßiger gefäßchirurgischer Versorgung und kardiopulmonaler Stabilisierung auf der Intensivstation blieb der Patient zunächst komatös bei erhaltener Spontanatmung. Zudem zeigte sich ein dialysepflichtiges Nierenversagen. Zwei Wochen später begann der Patient intermittierend die Augen zu öffnen, jedoch ohne Blickkontakt aufzunehmen oder Aufforderungen zu befolgen.
Zur Prognosestellung wurden wiederholte neurologische Untersuchungen und Zusatzdiagnostik (EEG, cerebrales CT und MRT, Bestimmung der neuronenspezifischen Enolase im Serum) durchgeführt. Die Befunde sprachen zusammen genommen für eine hypoxisch-ischämische Enzephalopathie, die jedoch nicht als schwerwiegend einzuschätzen war. Zur Langzeitprognose der Bewusstseinsstörung konnte demnach zum damaligen Zeitpunkt keine sichere Aussage getroffen werden. Die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Pflegeabhängigkeit wurde jedoch als hoch eingeschätzt.
In seiner Patientenverfügung hatte der Patient unter anderem festgelegt, dass lebenserhaltende Maßnahmen beendet werden sollen, wenn wesentliche Gehirnfunktionen „aller Wahrscheinlichkeit nach unwiederbringlich erloschen“ seien. Diese Situation war nach Einschätzung des interdisziplinären Behandlungsteams aktuell nicht eingetreten, die Patientenverfügung daher nicht wirksam.
Die vorsorgebevollmächtigten Töchter schilderten jedoch wiederholt und konkret, dass eine intensivmedizinische Weiterbehandlung ihres Vaters nicht in seinem Sinne sei. Er habe sich der Klappenoperation in der Hoffnung auf Besserung seiner Mobilität unterzogen. Da diese Besserung nun nicht mehr erreicht werden könne, würde er künstliche Ernährung und Dialysebehandlung ablehnen, selbst bei Aussicht auf eine weitere Vigilanzverbesserung über die nächsten Wochen. Die intensivtherapeutischen Maßnahmen wurden daher rund drei Wochen nach Aufnahme unter palliativer Symptomkontrolle beendet, woraufhin der Patient verstarb.
Diskussion
Mit den modernen Organersatzverfahren kann auch bei nur noch geringer Hoffnung auf Besserung das Leben oft um Tage oder Wochen auf der Intensivstation verlängert werden. Ob ein Behandlungsversuch noch gerechtfertigt ist oder ob die Therapie das Sterben nur unnötig verlängert, lässt sich oft nur schwer beantworten. Da immer mehr ältere Patienten mit mehreren Komorbiditäten auf Intensivstationen aufgenommen werden, sind Intensivmediziner zunehmend mit den ethisch-moralischen und rechtlichen Überlegungen konfrontiert, um über die Beendigung oder Nichteinleitung lebenserhaltender Maßnahmen zu entscheiden [16, 17].
Bekanntlich bedarf es für jede ärztliche Behandlung nach deutschem Recht
1. einer medizinischen Indikation und
2. einer wirksamen Einwilligung des Patienten – dies gilt auch für andauernde Organersatztherapien wie Beatmung oder Dialyse, ohne die der Patient versterben würde.
Für die Frage nach der Indikation einer intensivmedizinischen Maßnahme spielen – wie auch im vorliegenden Fall – Prognose und Behandlungsziel zentrale Rollen.
Zwar zeigte sich beim Patienten anfänglich ein Koma, dies allein spricht jedoch in den ersten Wochen nach Herz-Kreislauf-Stillstand nicht sicher für eine schlechte Prognose. Hilfreich für die oftmals herausfordernde prognostische Einschätzung einer hypoxisch-ischämischen Enzephalopathie (HIE) ist die S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie von 2018: sie kombiniert wiederholte neurologische Untersuchungsbefunde und multimodale Zusatzdiagnostik zu einem praktikablen Algorithmus [18]. Im geschilderten Fall hätte durchaus eine Indikation zur Weiterbehandlung gestellt werden können, um eine mögliche weitere Vigilanzverbesserung abzuwarten.
Ob nun eine Behandlung auch dem Wunsch des Patienten entspricht ist im nächsten Schritt zu prüfen. Die rechtlichen Grundlagen dafür finden sich in den §§ 1901 bis 1904 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).
Zunächst hat der Arzt zu prüfen, ob der Patient selbst entscheidungsfähig ist. Bei den meisten intensivmedizinischen Patienten wird dies nicht der Fall sein. Wenn ein schwerst kranker und meist unter Medikamenteneinfluss stehender Patient sich überhaupt äußern können sollte, so müssen diese Äußerungen (zum Beispiel Sterbewunsch) mit aller Vorsicht beurteilt werden.
Kann der Patient sich nicht selbst äußern, wird im nächsten Schritt geprüft, ob eine schriftliche Patientenverfügung vorliegt und ob sich diese auf die aktuelle Behandlungssituation bezieht. Diese Prüfung ist manchmal wegen allzu pauschaler Formulierungen in der Verfügung schwierig, gleichwohl ist sie essenziell.
Gibt es keine aktuell wirksame Verfügung, hat der Betreuer oder Bevollmächtigte den mutmaßlichen Patientenwillen anhand konkreter Anhaltspunkte und möglichst unter Einbezug naher Angehöriger festzustellen. Arzt und Patientenvertreter haben dann gemeinsam zu erörtern, welche Maßnahmen dem Patientenwillen bestmöglich entsprechen.
Sollte zwischen den beiden kein Einvernehmen über den Willen des Patienten hergestellt werden können, muss das Betreuungsgericht entscheiden und in der Zwischenzeit müssen die strittigen Therapiemaßnahmen durchgeführt werden.
Generell soll es aber oberstes Ziel sein, bei der Festlegung von Therapiebegrenzung oder -reduktion einen Konsens aller beteiligten Ärzte, Pflegekräfte und Angehörigen zu erreichen.
Das Wichtigste in Kürze
Das Delir ist bei kritisch kranken Patienten eine sehr häufige Form der cerebralen Dysfunktion, die ohne standardisierte Testung oft unerkannt bleibt. Für Prävention und Therapie sind nicht-medikamentöse Maßnahmen und das Erkennen von Risikofaktoren von wesentlicher Bedeutung. Für die pharmakologische Therapie ist die aktuelle Evidenzlage weiter unzureichend, deshalb sollte sie nur zur kurzfristigen symptomorientierten Behandlung beim Delir zum Einsatz kommen.
Gemäß der aktuellen Konsensuskonferenz wird Sepsis als lebensbedrohliche Organdysfunktion aufgrund einer fehlregulierten Körperantwort auf eine Infektion definiert. Outcome-relevant sind die Maßnahmen der Surviving-Sepsis-Campaign.
Bei vielen auf der Intensivstation aufgenommenen chronisch kranken Patienten stellt sich die Frage der Indikation. Neben der medizinischen Indikation steht im Zentrum aller Überlegungen dabei der (mutmaßliche) Patientenwille. Die Evaluation desselben für die konkrete Behandlungssituation kann mitunter schwierig sein, falls eine wirksame Patientenverfügung fehlt.
Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.
Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen oder persönlichen Beziehungen zu Dritten haben, deren Interessen vom Manuskript positiv oder negativ betroffen sein könnten.
Autoren
Universitätsprofessor Dr. Gerhard Schneider
Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin
Korrespondenzadresse:
Dr. Charlotte Lingg, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Ismaninger Str. 22, 81675 München
Tel. 089 4140-4291, E-Mail: charlotte.lingg(at)mri.tum.de
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