Orthopädie in Sierra Leone

Orthopädie in Sierra Leone

Seit 1996 engagieren sich die Mitglieder von „Orthopädie für die Dritte Welt“ e. V. (ODW) in Sierra Leone. Ein Beitrag über die Situation in dem westafrikanischen Land.

Als Abu Bakar Kanu 1994 das Licht der Welt erblickte, schien sein Schicksal schon vorbestimmt zu sein: Er wurde mit beidseitigem Klumpfuß geboren. Diese Kinder gelten in seiner Heimat als mit einem Fluch belegt und sind deshalb sozial stigmatisiert. Schul- und Berufsausbildung waren ihm deshalb verwehrt. In dieser Perspektivlosigkeit fand Tom Johnson von „Africa Surgery“ den 14-Jährigen in einem Dorf im Norden von Sierra Leone (Abbildungen 1 und 2). Nach zwei Operationen durch Chirurgen von „Orthopädie für die Dritte Welt“ e. V. kann er jetzt wieder mit plantigraden Füßen gehen (Abbildung 3). Der inzwischen 22-jährige hat eine Lehre als Tischler absolviert und ist sozial integriert.


Bilder 1 und 2: Abu Bakar Kanu mit schweren Fußverformungen.                            Bild 3: Tischler Abu Bakar Kanu kann nun wieder mit
                                                                                                                         plantigraden Füßen gehen.

120 Ärzte für 6,5 Millionen Einwohner

Sierra Leone zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Über 70 Prozent der Bevölkerung leben von weniger als einem Dollar am Tag und damit unterhalb der Armutsgrenze. Die Müttersterblichkeit ist die höchste der Welt, jede 13. Frau stirbt im Zusammenhang mit Schwangerschaft oder Geburt. Die Säuglingssterblichkeit ist eine der höchsten der Welt, von 1.000 Neugeborenen erreichen 185 das fünfte Lebensjahr nicht. Einer Bevölkerung von 6,5 Millionen stehen 120 Ärzte für die medizinische Versorgung gegenüber.

Von 1992 bis 2002 wütete ein Bürgerkrieg im Land, der Hunderttausende von menschlichen Opfern forderte, und eine zerstörte Infrastruktur und Landwirtschaft hinterließ. Hintergrund des Bürgerkrieges waren großteils die Interessen an den Erzen und Mineralen („Blood Diamonds“). Die darauffolgenden Jahre waren durch eine langsame Verbesserung der Wirtschaft und
Infrastruktur gekennzeichnet. Es entstanden neue Straßen und die Förderung von Erzen aus Minen wurde wiederaufgenommen.

Von der Ebola-Katastrophe noch nicht erholt

Im Mai 2014 wurde das Land von einer Ebola-Epidemie überrollt. Viele Menschen infizierten sich, ca. 10.000 starben, wobei eine hohe Dunkelziffer anzunehmen ist. Die Epidemie führte zu einem vollständigen Zusammenbruch von Landwirtschaft, Handel, Schulen und öffentlichem Leben. Auch das Gesundheitswesen brach zusammen. Viele Menschen starben, da – an und für sich einfach zu behandelnde – Erkrankungen wie beispielsweise Malaria bei Kindern und gastrointestinale Infekte nicht mehr behandelt wurden. Auch Kaiserschnitte und die Versorgung von häufigen Unfallopfern sistierte, sodass letztlich mehr Menschen an den Folgen von Ebola aufgrund des Gesundheitssystems als an Ebola selbst gestorben sind. Seit Dezember 2015 gilt Sierra Leone als Ebola-frei, das Land hat sich von dieser Katastrophe aber noch nicht wieder erholt.

Aktivitäten von ODW

ODW wurde 1996 als gemeinnütziger Verein gegründet. Ziel ist die Unterstützung von Orthopädie/orthopädischer Chirurgie und Orthopädietechnik in Entwicklungsländern. Entsprechend gehörten auch Orthopädietechniker und Orthopäden zu den Gründungsmitgliedern.

ODW hat zu Beginn ein einzelnes Projekt in Sierra Leone unterstützt. Dabei handelt es sich um eine orthopädische Werkstatt, die orthopädische Hilfsmittel überwiegend für Leprakranke herstellte. Während des Bürgerkriegs wurde die Werkstatt, die von Bruder Alois Schneider mit bewundernswerter Energie im Laufe von 25 Jahren in Makeni im Westen des Landes aufgebaut worden war, vollständig zerstört. Inzwischen ist diese wichtige Einrichtung, die einen großen Teil der 6,5 Millionen Einwohner mit orthopädischen Hilfsmitteln versorgt, in kleinerem Umfang wieder aufgebaut worden. ODW leistete sowohl materielle wie finanzielle Unterstützung für dieses Projekt.

Seit 2004 mit medizinischer Hilfe vor Ort tätig

In den Jahren nach dem Bürgerkrieg begann ODW sich direkt medizinisch in Sierra Leone zu engagieren. Durch Initiative der Orthopäden Dr. Wolfgang Haller (Ebersberg) sowie des Unfallchirurgen Dr. Artur Klaiber (Ebersberg) und mich entstand ein Projekt, über das regelmäßig orthopädische Chirurgen und Unfallchirurgen nach Sierra Leone fahren, um Operationen durchzuführen und fachärztliche Sprechstunden abzuhalten. Ausgewählt wurde ein katholisches Missionskrankenhaus des Ordens „St. John of God“, das in Lunsar im Inneren des Landes und gut erreichbar (1,5 Stunden Autofahrt) vom einzigen internationalen Flughafen des Landes entfernt liegt.

ODW kooperiert mit anderen Hilfsorganisationen wie Interplast Germany. Das Operationsspektrum wurde um Frauenheilkunde erweitert. Anästhesisten erlauben durch verbesserte Narkoseverfahren eine Ausweitung der OP-Kapazitäten. Durch Nils Niederstebruch (Mikrobiologe) und seine Organisation „Globolab“ e. V. entstand das einzige mikrobiologische Labor des Landes, wobei neben der materiellen Ausstattung vor allem die Ausbildung der einheimischen labortechnischen Assistenten im Vordergrund stand.

Bild 4: Team des Missionskrankenhauses des Ordens „St. John of God“.

Die jährlichen Besuche von vier Gruppen von Ärzten und OP-Kräften über jeweils mehrere Wochen sind inzwischen fester Bestandteil der Versorgung der Bevölkerung geworden. Das Krankenhaus „St. John of God“ hat einen Einzugsbereich von ca. 500.000 Einwohnern. Hinzu kommen durch Mundpropaganda aber zahlreiche Patienten aus anderen Landesteilen und aus dem Nachbarland Guinea.

Insgesamt ist der Bedarf an fachärztlicher Versorgung riesig. Die wenigen Fachärzte, die es gibt, halten sich fast ausschließlich in der Hauptstadt Freetown auf. Das operative Spektrum der Teams von ODW ist sehr groß. Zahlenmäßig stehen vor allem Pseudarthrosen, Osteomyelitis sowie schwere Fußverformungen wie rebellischer Klumpfuß im Vordergrund. Auch die Versorgung von Opfern von Verkehrsunfällen nimmt stark zu. Für die Frauenärzte stehen Tumore an Brust und Gebärmutter, komplizierte Entbindungen sowie Erkrankungen nach Entbindungen im Vordergrund.

ODW unterstützt die Krankenschwesternschule in Lunsar, zum Teil materiell mit beispielsweise Unterrichtsmaterialien, Beamer, Mobiliar aber auch durch Stipendien.

Es gibt zwei OP-Säle, die größtenteils von uns ausgerüstet wurden und eine unfallchirurgische Grundversorgung erlauben.

Ausbildung von Community Health Officers

Einheimische Ärzte werden in die operative Behandlung mit einbezogen, dies ist aber aufgrund der geringen Zahl von Ärzten im Land sehr schwierig. Im Vordergrund steht deshalb derzeit die Weiterbildung von Community Health Officers (CHO), die für die medizinische Grundversorgung zuständig sind. Sie werden in der Versorgung von Frakturen und Weichteilverletzungen unterrichtet und lernen beispielsweise Extensionen und externe Fixateure anzulegen.


Bild 5: Dr. med. univ. Fritjof Schmidt-Hoensdorf übergibt gespendetes chirurgisches Instrumentarium an Br. Patrick.

Unterstützung von Ebola-Waisen

Als weitere Projekte werden insgesamt über 100 Ebola-Waisen unterstützt und erhalten Hilfe für Unterkunft, Nahrung, Kleidung und medizinische Hilfe. ODW finanziert auch die Schulgebühren und die damit anfallenden Kosten für zum Beispiel Schuluniformen, Bücher und Schreibutensilien.

Hintergrund

Über Einsätze in Sierra Leone
„Ärzte in Afrika. Zu Besuch bei den Ebolaopfern. Eine Reportage von Edgar Verheyen“, im Internet unter : www.o-d-w.net oder www.dropbox.com/s/xlscp6fz7622534/DVD.mp4?dl=0

Über Klumpfußbehandlung in Entwicklungsländern
„The neglected clubfoot. How to treat it in a rural setup in southern Tanzania“ von Rolf Zielinski, im Internet: unter www.youtube.de, Stichwörter: neglected clubfoot, Tanzania

 

 

 

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