Patientenlenkung

Dr. Gerald Quitterer

Das Prinzip der Lenkung von Patientinnen und Patienten ist keine Erfindung unserer Zeit. Vielleicht erinnern sich einige von uns an das Krankenscheinscheckheft: Es gab vier Behandlungsausweise für jeweils ein Quartal und einen in Reserve, falls man einmal einen zweiten Arzt in Anspruch nehmen musste. Die Behandlungspfade waren durch Überweisungs- und Einweisungsscheine geregelt. Diese Zeit hat sich, wir meinen Gott sei Dank, geändert, allerdings damit auch die Inanspruchnahme der medizinischen Leistungen. In unserem Gesundheitssystem findet keine Patientenlenkung der verschiedenen Behandlungsanlässe statt. Das bedeutet, jede Patientin/jeder Patient kann jederzeit jede Versorgungsebene aufsuchen und die dortigen Ressourcen für sich in Anspruch nehmen.

Die Deutschen gehen rund zehnmal pro Jahr zum Arzt. Die Konsultationshäufigkeit hat sich in den vergangenen dreißig Jahren nahezu verdoppelt. Chronische und psychische Erkrankungen, wie auch die Möglichkeiten an Diagnostik und Therapie haben um ein Vielfaches zugenommen. Dabei hat sich auch die Anspruchshaltung von Patienten verändert.

Gleichzeitig konstatiert die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) in mehreren Regionen im Freistaat, besonders im ländlichen Raum, eine bestehende oder drohende ärztliche Unterversorgung. Dies ist eine Entwicklung, die sich auf Grund eines Trends zur Teilzeit und der Tatsache, dass in den kommenden Jahren eine bedeutende Zahl von Ärzten, die so genannte „Babyboomer-Generation“, in den Ruhestand treten wird, noch verstärken wird. Deshalb müssen die überbordenden Inanspruchnahmen mit den schwindenden Ressourcen in Einklang gebracht werden, wenn auch künftig eine Vollversorgung gewährleistet werden soll. Sie gerät nicht durch eine Patientenlenkung, sondern durch übervolle Praxen und Notaufnahmen in Gefahr.

Es erfordert von allen eine Besinnung auf die im Sozialgesetzbuch (SGB V) vorgegebene Formulierung der so genannten WANZ-Kriterien: „Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.“ (SGB V, § 12 - Wirtschaftlichkeitsgebot). Das ist die Stütze eines solidarisch getragenen Gesundheitssystems mit einer Versorgung für alle, die sie nötig haben. Derzeit findet jedoch ein ungesteuerter Zugang zu Gesundheitsleistungen statt. Das Gesundheitssystem stößt so an seine Grenzen: „Jeder zu jeder Zeit überall von jedem alles“ wird zum Kollaps des Gesundheitswesens führen. Diese „Flatrate – Medizin“ gibt es in anderen Ländern nicht und Deutschland ist gut beraten, eine Patientenlenkung sowohl im ambulanten Bereich als auch in der Notfallversorgung anzustreben. Für beides gibt es Lösungsansätze.

Patientenaufklärung über eine sinnvolle Inanspruchnahme ist erforderlich. Dazu sind auch die Krankenkassen und die Politik in die Pflicht zu nehmen und müssen den Begriff Bedürfnis durch den Begriff Bedarf ersetzen, orientiert sich doch Versorgung am Bedarf, nicht an Bedürfnissen. Patientenlenkung schont nicht nur Ressourcen, sondern hält die Versorgung durch Schutz vor Überdiagnostik und die Möglichkeit zielgerichteter Behandlung stabil. Sie ist nicht nur ärztlich vertretbar und mit der Patientensicherheit vereinbar, sondern unter dem Gesichtspunkt, dass allen Patienten weiterhin ein hochwertiges Angebot ärztlicher Leistungen zur Verfügung stehen soll, auch im Sinne der Solidargemeinschaft gesamt gesellschaftlich gerechtfertigt und meiner Meinung nach alternativlos. Dabei ist die Kooperation der ärztlichen Versorgungsebenen wesentlicher Bestandteil und sektorenverbindend. Im ambulanten Bereich bieten sich als Möglichkeit der Patientenlenkung schon etablierte Primärarztmodelle, die es weiter zu entwickeln gilt, sowie die Versorgung in der Teampraxis bei Haus- und Fachärzten im Zusammenwirken mit qualifizierten medizinischen Fachangestellten an.

Ebenso steht die Notfallversorgung im Fokus, wobei sich die Definition des Notfalls sehr breit entwickelt hat. Jede Befindlichkeitsstörung beansprucht mittlerweile eine unmittelbare ärztliche Versorgung. Unabhängig davon, ob dies im Einzelfall tatsächlich erforderlich ist, wird in zu vielen Fällen die Notaufnahme eines Krankenhauses aufgesucht.  Die Gründe dafür sind vielfältig: keinen Termin vereinbaren zu müssen, mehrere Ärzte gelichzeitig konsultieren oder eine Zweitmeinung einholen zu können und die gesamte Ausstattung des Krankenhauses in Anspruch nehmen zu wollen, um nur einige zu nennen.

Dies ist keineswegs nur am Wochenende der Fall, sondern auch, wenn die Praxen der niedergelassenen Ärzte geöffnet sind. Ärzte in den Notaufnahmen sind zunehmend damit beschäftigt, echte Notfälle von leichteren Erkrankungen oder Verletzungen unterscheiden zu müssen. Ein Gutachten zeigt, dass sechs von zehn selbst eingeschätzten Notfallpatienten keine sind. Man könne Patienten aber aus der Notaufnahme nicht einfach wieder wegschicken und so einen gefährlich abwendbaren Krankheitsverlauf übersehen – und dennoch wird die Überlastung beklagt. Gerade in dieser Situation ist es wichtig, im Sinne der notwendigen Versorgung echter Notfälle eine sinnvolle Lenkung zu etablieren. Sektorenverbindende Versorgung in idealer Form. Behandlung muss dort stattfinden, wo sie vor allem unter dem Aspekt der Patientensicherheit, am effizientesten ist. In Bayern wurde dies an über 100 Kliniken etabliert, mit einer Bereitschaftspraxis an oder in unmittelbarer Nähe zur Notaufnahme. Seit geraumer Zeit entwickelt sich die Strukturierte medizinische Ersteinschätzung als zuverlässiges Instrument der Patientenlenkung hinsichtlich der geeigneten Versorgungsstruktur wie auch des Versorgungszeitpunktes – nicht nur am gemeinsamen Tresen der Notaufnahme und Bereitschaftspraxis, sondern auch in den Vermittlungszentralen des Kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes, also präklinisch. Eine mögliche Antwort, wie das Problem überlasteter Notaufnahmen gelöst werden kann, liefert zum Beispiel das Pilotprojekt am RoMed Klinikum Rosenheim. Im Rahmen des Projekts werden alle im Klinikum ankommenden Patienten eingeschätzt. Gegebenenfalls wird den Patienten dann auch eine Behandlung in einer nahegelegenen Haus- oder Facharztpraxis angeboten. Dazu müssen Praxen von Niedergelassenen für diese Kooperation zur Verfügung stehen. Dies setzt einmal mehr seitens der Politik voraus, dass den Worten des Gesundheitsministers auch Taten folgen, die gewollte Förderung dieser Versorgungsebene auf den Weg gebracht wird – für Haus- und Fachärzte. Letztlich gilt natürlich, die Patientinnen und Patienten auf diesem Weg mitzunehmen und von einer Verbesserung der Versorgung zu überzeugen.

Patientenlenkung hat nichts mit Bevormundung zu tun. Eine zielgerichtete und koordinierte Inanspruchnahme ist die Voraussetzung für einen solidarisch getragenen Zugang zu den medizinisch erforderlichen Leistungen, auch in Zukunft.




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