Segel setzen für das Gesundheitssystem

Dr. Gerald Quitterer

Mitte April nahm die Polizei in mehreren Bundesländern die Mitglieder einer rechtsextremistischen Gruppe fest, die, nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz, unter anderem die Entführung von Bundesgesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauter­bach und den Sturz des demokratischen Systems der Bundesrepublik Deutschland geplant hatte. Das Motiv war nach Medienberichten wohl eine Ablehnung der Corona-Politik des Ministers.

Ich bin zutiefst entsetzt über dieses Vorhaben, das eine immer stärkere Radikalisierung der Querdenkerszene in der Bundesrepublik zu belegen scheint. Meine Solidarität gilt in dieser Situation ganz klar dem Bundesgesundheitsminister. Gerade wir Ärztinnen und Ärzte, die seit Beginn der Coronapandemie auch immer wieder Beleidigungen und Drohungen durch Querdenker ausgesetzt sind, wissen, was für eine große persönliche Belastung solche Angriffe darstellen können. Klar ist: Hass- und Gewaltbekundungen gegen unsere gewählten Volksvertreterinnen und Volksvertreter wie auch gegen Medizinerinnen und Mediziner sind stets aufs Schärfste zu verurteilen und müssen weiterhin konsequent strafrechtlich verfolgt werden.

Ich bin mir sicher, dass wir dieses Thema auch im Rahmen des 126. Deutschen Ärztetags diskutieren werden, welcher vom 24. bis 27. Mai 2022 in Bremen stattfinden wird. Acht Monate nach der Bundestagswahl fällt die Hauptversammlung der Bundesärztekammer in politisch besonders herausfordernde Zeiten. Neben dem Krisen­management in der Coronapandemie und der Bewältigung der humanitären Folgen des Ukraine-Krieges muss sich die Bundesrepublik dringend zahlreichen Herausforderungen im deutschen Gesundheitswesen widmen. Dazu gehören neben der Eindämmung der Hass- und Gewaltbekundungen gegen Ärzte auch die Verbesserung der ärztlichen Nachwuchsförderung, die Prävention der gesundheitlichen Folgen des Klimawandels, effektivere Maßnahmen gegen die zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und notwendige Reformen im Bereich der Krankenhausfinanzierung – wünschenswert wäre etwa, wenn sich die Klinikvergütung zukünftig prioritär am tatsächlichen Behandlungsbedarf und den dafür nötigen Personal- und Vorhaltekosten ausrichten würde. Im ambulanten Bereich könnte ein Praxiszukunftsgesetz dazu beitragen, die Attraktivität der Niederlassung zu verbessern.

Ich bin überzeugt, dass der Ärztetag diese Themen konstruktiv und lösungsorientiert diskutieren und der Politik wegweisende Beschlüsse und Forderungen vorlegen wird. „Segel setzen für das Gesundheitssystem der Zukunft“, das könnte das Motto unserer Zusammenkunft in der altehrwürdigen Hafenstadt an der Weser werden. Ein besonderes Augenmerk sollte der Ärztetag dabei auf ein Thema richten, das aus meiner Sicht in den vergangenen Monaten nicht die Aufmerksamkeit erhalten hat, die ihm eigentlich gebührt. Ich meine die Frage, wie die Nutzung von Gesundheitsdaten künftig geregelt werden sollte. Aktuell ist dies insbesondere aufgrund eines zunehmenden Interesses Dritter an Behandlungsdaten, sei es zum Zwecke der Forschung oder zur Steuerung des Behandlungsgeschehens. Grundsätzlich sind Forschungsanstrengungen sowie optimierte ­Informationsflüsse im Gesundheitswesen durchaus zu befürworten, denn man kann sich davon Chancen für eine verbesserte Behandlung erhoffen. Dazu benötigt die Wissenschaft Daten. Gleichzeitig zeigen Untersuchungen aber, dass sowohl Ärzte als auch Patienten der Vertraulichkeit ihrer sensibelsten Patientendaten uneingeschränkt höchste Priorität einräumen – ein Anliegen, welches ich vollumfänglich unterstütze. Denn der Respekt vor der Patientenautonomie ist ein ehernes Prinzip der Ärzteschaft.

Deshalb muss aus meiner Sicht auch in Zukunft folgender Grundsatz eingehalten werden, um das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis und auch den notwendigen Datenschutz nicht zu gefährden: Eine Nutzung von sensiblen Informationen durch Dritte sollte nur dann möglich sein, wenn die betroffenen Patientinnen und Patienten der Verwendung dieser Daten, insbesondere für die sogenannte sekundäre Nutzung, beispielsweise für Forschung oder die Erstellung so genannter digitaler Zwillinge, ausdrücklich und informiert zugestimmt haben. Lediglich die primäre Nut-zung, also durch die Behandler des Patienten, sollte davon ausgenommen sein, um im Rahmen der Versorgung interprofessionell darauf zugreifen zu können. Überdies muss den Patienten im Sinne einer Datenautonomie vorher klar sein, wo und wie lange ihre Daten gespeichert werden, welche Personen oder Institutionen Zugriff haben werden, zu welchem Zweck diese Daten verwendet werden und welches Verfahren zur Anonymisierung gegebenenfalls angewandt wird. Nicht zu vergessen die Frage, ob und wie die Daten gelöscht werden können.

Aus dieser Perspektive betrachte ich im Übrigen auch die elektronische Patienten-akte (ePA). Notfalldaten wie Allergien, Medikation, Impfungen oder durchgeführte Untersuchungen in einer digitalen Akte zu speichern und Behandlern im Bedarfsfall einen raschen Zugriff darauf zu ermöglichen, macht Sinn. Die Patienten müssen aber in jedem Fall die Autonomie über diese Daten behalten. Das gelingt nicht, wenn sowohl regelhaft eine ePA angelegt wird und zugleich auch eine sekundäre Nutzung ohne Zustimmung des Patienten möglich ist, die erst durch aktives Wider-sprechen eingeschränkt werden kann (sogenannte „Opt-out“-Lösung)“. Wenigstens wurde eine solche „Opt-out“-Regelung zur ePA, die im Zuge der Debatte über die Corona-Impfpflicht in zwei Gesetzesentwürfe der Ampelparteien quasi „eingeschmuggelt“ worden war, schlussendlich doch nicht vom Bundestag verabschiedet. Eine solch weitreichende Entscheidung kann aus meiner Sicht nur nach einer ausführlichen gesellschaftlichen Diskussion getroffen werden. Ein geflügeltes Wort ist dabei: „Bring the algorithm to the data“. Dementsprechend müsste im Vorfeld transparent dargestellt werden, ob Daten einerseits für eine ­bestimmte Fragestellung notwendig sind und ob die Ergebnisse für den Einzelnen oder das Gemeinwohl einen Nutzen bringen.

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