Suchtforum: Cannabis als Medizin

Pressekonferenz Suchtforum

Im April 2018 fand in München das 17. Suchtforum in Bayern statt. Rund 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten mit den Referenten über das Thema „Grundfragen der medizinischen Verwendung von Cannabis“. Seit März 2017 ist Cannabis in Deutschland als „Medikament letzter Wahl“ zugelassen. Ein Großexperiment, das von einigen mit Freude, von anderen mit Sorge betrachtet wird. Noch gibt es viele Fragen und Unklarheiten. Das Suchtforum ist eine Kooperationsveranstaltung der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK), der Bayerischen Landesapothekerkammer (BLAK), der Bayerischen Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen e. V. (BAS) und der Bayerischen Landeskammer der Psychologischen Psychotherapeuten und der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (PTK).


Suchtforum-Pressekonferenz mit Dipl.-Psych. Birgit Gorgas, Vorstandsmitglied der PTK, Ulrich Koczian, Vizepräsident der BLAK, Professor Dr. Dr. Dr. Felix Tretter, 2. Vorsitzender der BAS, Dr. Heidemarie Lux, Suchtbeauftragte des Vorstandes der BLÄK, Moderator Jodok Müller, BLÄK (v. li.).

Dr. Heidemarie Lux, Suchtbeauftragte des Vorstandes der BLÄK, betonte in der Pressekonferenz: „Cannabishaltige Arzneimittel sind eine sinnvolle Ergänzung für Patientinnen und Patienten mit bestimmten schweren Erkrankungen und vor allem für Tumorpatienten. Cannabis ist aber auch immer noch ein Rauschmittel und kein Allheilmittel und muss mit Augenmaß verordnet werden.“ Beachtet werden müsse auch die optimale Darreichungsform von Cannabis-Produkten. Aus Patientensicht sei die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung ein wichtiger Punkt. Die vorgeschriebene Begleiterhebung sei zwar ein Mehraufwand für den Arzt, bilde aber eine sinnvolle Datengrundlage für zukünftige Auswertungen und Studien. Voraussetzung für eine ärztliche Verordnung sei, dass nach Einschätzung des behandelnden Arztes diese Mittel spürbar positiv den Krankheitsverlauf beeinflussen oder dessen Symptome lindern. Dies könne zum Beispiel in der Schmerztherapie, bei bestimmten chronischen Erkrankungen wie etwa Multipler Sklerose oder bei schwerer Appetitlosigkeit und Übelkeit der Fall sein. Außerdem müsse eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung, nicht zur Verfügung stehen oder nach begründeter Einschätzung durch den Arzt unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht angewendet werden können. Zusätzlich müsse eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome bestehen. Nach einer Recherche der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) liegen für Cannabisarzneimittel akzeptable wissenschaftliche Erkenntnisse bislang nur für die begleitende Behandlung von Spastiken, Übelkeit und Erbrechen durch Zytostatika sowie chronische Schmerzen vor. Eine mögliche Wirksamkeit werde zudem in der Literatur für Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust bei HIV-AIDS, Schizophrenie, Morbus Parkinson, Tourette-Syndrom, Epilepsie, Kopfschmerzen sowie chronisch entzündliche Darmerkrankungen diskutiert.
Viele Ärztinnen und Ärzte seien sich unsicher, in welchen Fällen Cannabis eine sinnvolle Therapie sein könne. Hauptproblem sei, dass es kaum wissenschaftlich verlässliche Studien gebe, die den Nutzen von Cannabis belegten. Für eine solche Studie brauche es eine extrem große Teilnehmerzahl, Vergleichsgruppen und lange Laufzeiten. Das Gesetz sei unter Zeitdruck entstanden und lasse viel Spielraum für Interpretationen: Wann sind alle Standardtherapien ausgeschöpft? Was ist eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht? Der Arzt müsse damit rechnen, dass er bei einer nicht dem Gesetz entsprechenden Verordnung von den Kassenärztlichen Vereinigungen in Regress genommen werde. Die Krankenkassen müssten zwar vorab die Therapie mit Cannabis in jedem Einzelfall genehmigen, behielten sich aber vor, unwirtschaftliches Verhalten nachträglich zu prüfen und eventuell einen Regress zu fordern. Aufgrund der hohen Kosten für Cannabisblüten aus der Apotheke könnten solche Regressforderungen extrem teuer werden. „Die Krankenkassen sollten bei den Wirtschaftlichkeitsberechnungen auch berücksichtigen, dass zum Beispiel bei Erkrankungen wie Rheuma, die Behandlung mit Cannabis sogar zu Einsparungen gegenüber anderen noch kostspieligeren Medikamenten führen könne“, forderte Lux. Außerdem würden Ärztinnen und Ärzte bei einer zu lockeren Auslegung der Vorschriften gegen den § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch (SGB) V verstoßen. Die Trennlinie zwischen Heilmittel und Droge lasse sich für den Arzt nicht immer sauber ziehen. Die Erfahrungen aus der Substitutionsbehandlung mahnten deshalb zur Vorsicht. Die Ärzte müssten außerdem darauf achten, dass das Arzneimittelbudget eingehalten werde.

100 molekulare Wirkstoffe

Professor Dr. Dr. Dr. Felix Tretter, 2. Vorsitzender der BAS, erklärte: „Cannabis ist der Name für eine Pflanze, mit Blüten, Blättern und Stängeln als ‚Bausteinen‘, die ihrerseits etwa 100 molekulare Wirkstoffe enthält. Cannabis-Zubereitungen sollen Krankheiten heilen können. Sicher aber wirkt es als Rauschmittel und kann Abhängigkeit erzeugen.“ Mit Cannabis als Medizin müssten erst umfangreiche Erfahrungen gesammelt werden, um die therapeutische Wirksamkeit nach Kriterien der evidenzbasierten Medizin zufriedenstellend absichern zu können. Auch zum Suchtpotenzial von medizinischem Cannabis müssten noch differenzierte und umfassende Untersuchungen durchgeführt werden. Demzufolge seien die Einschätzungen von Fachleuten derzeit äußerst kontrovers. Sie reichten von Cannabis als unwirksames Mittel oder auch als „Allheilmittel“ bis hin zum Suchtmittel.


Großes Interesse beim 17. Suchtforum im Klinikum rechts der Isar in München.

Medizingeschichtlicher Überblick

Professor Dr. Dr. phil. Ambros Uchtenhagen, emeritierter Professor für Sozialpsychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Präsident der Stiftung für Sucht- und Gesundheitsforschung, erläuterte den Weg des Cannabis zur therapeutischen Anwendung – von der Medizin zur Droge zur Medizin. Bereits 6.000 vor Christus gab es in Pakistan einen steinzeitlichen Grabfund von Cannabis. In Europa tauchte die Kulturpflanze im 8. Jahrhundert im Breviarium von Karl dem Großen auf, im 19. Jahrhundert wurde Cannabis als narkotisches Genussmittel verwendet und in der Chemotherapie eingesetzt. Es habe auch immer wieder Phasen repressiver Politik gegeben: die katholische Inquisition verfolgte den Cannabisgebrauch als „Sakrament der Satansmesse“ und später bei der Hexenverfolgung. In den USA wurde Cannabis ab 1937 als Reaktion auf die Zunahme des Konsums nach der Alkoholprohibition verboten. 1961 hat die UNO das Einheitsabkommen „Single Convention on Narcotic Drugs“ abgeschlossen. Klinische Forschungen zu Cannabis als Medizin gab es bereits 1842, die pharmakologische Forschung startete 1898. Aus ethischer Sicht gebe es einerseits eine rein ideologische Position, nämlich obligate Abstinenz oder uneingeschränkte Freiheit. Andererseits gebe es aber auch eine pragmatische Position: die Abwägung von Nutzen und Schaden. Grundlage dafür müsse ein glaubwürdiger Stand der Forschung zu Nutzen und Schaden sein.

Cannabis als Arzneimittel

Professor Dr. Oliver Pogarell, geschäftsführender Oberarzt, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, berichtete über Erfahrungen mit Cannabis als Arzneimittel. Auch er wies darauf hin, dass Cannabinoide Chancen und Risiken hätten. Zahlreiche medizinische Indikationen würden diskutiert und es gebe eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen und der Datenlage. Solide Daten mit dem Nachweis einer Kausalität lägen für viele Indikationen noch nicht vor. Folgende Kontraindikationen seien auf alle Fälle zu beachten: aktuelle oder in der Vergangenheit liegende Substanzkonsum­störungen, Schizophrenie und andere psychotische Erkrankungen, junges Alter bis ca. 25 Jahre – da die Hirnreifung noch nicht abgeschlossen ist, Schwangerschaft und Stillzeit, Unverträglichkeiten und Überempfindlichkeit gegen Cannabinoide.
Über pharmazeutisch-praktische Aspekte von Cannabis referierte Apotheker Dominik Bauer, Sprecher der Sektion Pharmazie der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin: „Cannabinoide stellen aus heutiger Sicht keine Arzneistoffe dar, mit denen sich eine Vielzahl therapeutischer Probleme schlagartig lösen lassen.“ Sie würden Arzneistoffe der ersten Wahl (First-Line) in ihrer Wirkung in der Regel nicht übertreffen und es müsse beachtet werden, dass jedes Cannabinoid unterschiedlich wirke. Bei der Verschreibung müssten Ärzte vor dem Behandlungsbeginn den Patienten aufklären über Wirkungen und Nebenwirkungen, mögliche Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln, die Verkehrstüchtigkeit, Dosierung und Anwendungsart und die richtige Lagerung.

Cannabisstörungen

Prävention und Therapie von Cannabisstörungen lautete das Thema von Dipl.-Psych. Andreas Gantner, Geschäftsführer von Therapieladen e. V. aus Berlin. Studien hätten belegt, dass Cannabiskonsum durch ein Verbot weder verhindert noch durch eine Regulierung verstärkt werde. Bei den Behandlungssuchenden sei auffällig, dass das Durchschnittsalter bei Behandlungsbeginn bei Konsumenten von Cannabinoiden mit 24,5 Jahren am niedrigsten sei, bei anderen stofflichen Abhängigkeiten liege das Alter zwischen 27,4 (Stimulanzien) und 44,3 (Alkohol) Jahren. Eine Abhängigkeit entstehe bei rund neun Prozent aller Cannabiskonsumenten, allerdings steige die Abhängigkeit auf 17 Prozent, wenn bereits in der Adoleszenz konsumiert werde, und auf 25 bis 50 Prozent, wenn Cannabis täglich eingenommen werde. Es gebe auch nicht den typischen Cannabisklienten, vielmehr würden sich diese nach verschiedenen Aspekten und Problemlagen unterscheiden. Differenzieren könne man nach den Entwicklungsaspekten, nach psychischen Symptomen und nach der Therapiemotivation. Diese Heterogenität müsse auch in der Therapie berücksichtigt werden. Zentral für die Zielgruppe seien methodenintegrative, flexible und multidisziplinäre therapeutische Ansätze. Gantner sprach sich für eine Verstärkung der Suchtprävention und mehr konsumbegleitende Angebote, zum Beispiel Drug-Checking und die Entwicklung von Kriterien für einen „risikoarmen“ Cannabiskonsum aus.

Erfahrungsberichte

Einen spannenden Abschluss des Suchtforums bildete der Erfahrungsbericht eines betroffenen Schmerzpatienten und dessen behandelnden Arztes, Privatdozent Dr. Dominik Irnich von der Interdisziplinären Schmerzambulanz der Klinik für Anaesthesiologie der LMU München. Nach einem Verkehrsunfall mit schweren Verletzungen war die Verordnung von Opiaten für den jungen Patienten notwendig geworden und es wurden im Lauf der Jahre zahlreiche multimodale Schmerztherapien durchgeführt. Auf eigenen Wunsch unternahm der Patient einen statio­nären Opiat-Entzug und wurde in der Folge mit Dronabinol und Cannabisblüten behandelt. „Ich habe in meinem persönlichen Fall durch den Entzug der Opiate mit Hilfe von Dronabinol einen Weg gefunden, besser mit meinen Schmerzen umzugehen. Ich habe zwar jetzt mehr Schmerzen, aber spürbar weniger Nebenwirkungen wie bei den Opiaten und meine Lebensqualität ist dadurch deutlich gestiegen“, erklärte der Patient. Das 17. Suchtforum wird am 7. November 2018 in Nürnberg wiederholt.

Jodok Müller (BLÄK)

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