Suchtforum: Neuroenhancement

Dr. Gerald Quitterer eröffnete das 21. Suchtforum und begrüßte knapp 700 Online-Teilnehmer

Dr. Gerald Quitterer, Präsident der BLÄK, eröffnete die Veranstaltung und erklärte in seinem Grußwort: „Neuroenhancement (NE) oder Hirn­doping ist kein neues gesellschaftliches Phänomen. Menschen haben immer schon versucht, durch den Einsatz von Wirkstoffen oder Substanzen die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern oder bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie Schüchternheit oder Selbstwertprobleme positiv zu beeinflussen. Bei der ganzen Diskussion um Hirndoping und ‚­Happy Pills‘ sollten wir aber nicht vergessen, dass statt der Einnahme verschiedener Substanzen eine Stärkung der kognitiven Leistungsfähigkeit insbesondere durch Bewegung, gesunde Ernährung, verschiedene Meditationsformen oder die Vermeidung von Schlafmangel erreicht werden kann.“ Nach einer Studie der DAK aus dem Jahr 2015 hätten rund sieben Prozent der Erwachsenen in Deutschland schon einmal Medikamente zum pharmakologischen NE eingenommen, inklusive der ungenannten Fälle gehe man von zwölf Prozent aus.
 
Dabei sei es noch relativ unklar, ob sich mit bestimmten Medikamenten objektiv überhaupt eine Leistungsverbesserung erzielen lasse und wie lange diese dann auch wirkten. Außerdem gebe es immer noch zu wenig Erkenntnisse über die Nebenwirkungen von Psychostimulanzien bei gesunden Menschen und über deren mögliche Langzeitfolgen. NE sei ein Phänomen, welches in einer von Leistungsdruck und Leistungsbereitschaft geprägten Gesellschaft für breite Bevölkerungsteile von großer Aktualität sei.

Wirksamkeit und gesellschaftliche Probleme

Professor Dr. Oliver Pogarell, 1. Vorsitzender der BAS, führte in das Thema ein und moderierte die Online-Veranstaltung. Er hinterfragte Hintergrund und Wirksamkeit des Einsatzes von Neuroenhancern: „Motive dafür könnten Leistungsdruck und Stresserleben am Arbeitsplatz oder in der Ausbildung sein. Inwiefern durch den Konsum dieser Substanzen tatsächlich die gewünschten Effekte erreicht werden, ist angesichts mangelnder Evidenz fraglich. Zudem stellt sich die Frage, ob die Entscheidung für den Konsum wirklich frei getroffen werden kann oder eher durch den Druck von außen, im Wettbewerb mithalten zu können, beeinflusst wird.“

Professorin Dr. rer. nat. Elisabeth Hildt vom Illinois Institute of Technology in Chicago, USA, sprach über die gesellschaftlichen Probleme und Perspektiven der Verbesserung leistungsbezogener und kognitiver Fähigkeiten. Von Relevanz seien zwei gesellschaftliche Entwicklungen: Die starke Betonung der Rolle des menschlichen Gehirns und der Transhumanismus. Die Relevanz neurowissenschaftlicher Kenntnisse in medizinischen Kontexten habe in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen und es gebe ein erhöhtes Bewusstsein über die Bedeutung des Gehirns für menschliches Verhalten. Beim Transhumanismus gehe es darum, die Grenzen menschlicher Möglichkeiten, sei es intellektuell, physisch oder psychisch, durch den Einsatz technologischer Verfahren zu erweitern. Dabei gebe es eine Reihe von gesellschaftlichen Fragestellungen: „Welches Bild vom Menschen herrscht innerhalb einer ‚enhancenden‘ Gesellschaft vor? Warum sollten gesunde Personen entsprechende leistungssteigernde Substanzen einnehmen? Wie hoch wäre der insgesamt zu erwartende gesellschaftliche Nutzen, wenn NE breit eingesetzt werden würde? Kann es einen direkten Zwang zur Einnahme am Arbeitsplatz geben, zum Beispiel beim Militär? Entwickelt sich ein indirekter Zwang zur Einnahme entsprechender Substanzen, wenn dies innerhalb der Gesellschaft weit verbreitet wäre, um mithalten zu können?“ Hildt wünschte sich mehr empirische Studien über Wirkungen und Nebenwirkungen entsprechender Substanzen bei Gesunden. Konsumenten bräuchten eine entsprechende Aufklärung über Nutzen und Risiken von Neuroenhancern, außerdem sollten ihnen Alternativen aufgezeigt werden. Von ­Ärzten forderte sie einen eindeutigen Umgang mit ­Verschreibungen von Neuroenhancern.

Umfrageprobleme

Dr. phil. Markus Schäfer, Institut für Publizistik, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, untersuchte „Methodische Aspekte bei der Erfassung von NE“. Bei Umfragen seien die Frageformulierungen nicht immer optimal, es würden zum Beispiel belastete Begriffe wie Hirndoping, Drogen oder Missbrauch verwendet. Dabei bestünde die Gefahr, keine ehrlichen Antworten zu erhalten. Wichtig sei auch, eindeutige Begriffe und Formulierungen in der Fragestellung zu verwenden. Die Ergebnisse von Studien seien deshalb mit Vorsicht zu interpretieren. Die Gefahr von relevanten Verzerrungen sei bei vielen verfügbaren Studien zur Prävalenz von NE real. Medien würden dazu neigen, über verstärkt hohe und steigende Prävalenzen zu berichten. Rezipienten könnten dadurch den Eindruck gewinnen, dass NE weiter verbreitet sei als in Wirklichkeit, und Politiker könnten falsche Entscheidungen treffen. Wichtig seien deshalb klare Definitionen, eine für die Grundgesamtheit repräsentative Stichprobe, Sensibilität für methodische Aspekte bei der Item-Formulierung und eine konsequente Berichterstattung der methodischen Details in Publikationen.

Verbreitung und Pharmakologie

Professor Dr. Dr. disc. pol. Andreas Franke, Hochschule der Bundesagentur für Arbeit, Mannheim, beschäftigte sich mit der Wirksamkeit, den Nebenwirkungen und der Verbreitung von NE in der Arbeitswelt. Interessant sei eine Analyse mit der Messung von Metaboliten und Methylphenidat und Amphetamin im Abwasser eines amerikanischen Studentenwohnheims. Dabei zeigten sich klare Spitzen im Zusammenhang mit dem Stresslevel in Klausurphasen. „Man sieht relativ klar, und zwar ohne, dass man darauf angewiesen ist, ob die Menschen bei Befragungen die Wahrheit sagen, dass offensichtlich irgendeine Assoziation zu einer Leistungsanforderung besteht, was diesen Konsum betrifft“. Eine Umfrage unter Lesern der Zeitung Handelsblatt (n = 1.021) brachte folgende Ergebnisse: 40 Prozent würden freiverkäufliche Medikamente, 13 Prozent verschreibungspflichtige Medikamente und acht Prozent illegale Drogen nehmen um Müdigkeit zu bekämpfen, Stress und Leistungsdruck besser auszuhalten, die Stimmung zu verbessern oder selbstsicherer zu werden. 19 Prozent der Befragten hätten jemals in ihrem bisherigen Leben aus diesen Gründen verschreibungspflichtige Medikamente oder illegale Substanzen konsumiert.

Professor Dr. Dr. nat. med. Marco Weiergräber vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn teilte das pharmakologische NE in drei Kategorien ein: Kognitives NE (Konzentration, Aufmerksamkeit, Vigilanz, Lernen und Gedächtnis), emotionales NE (Optimierung von Stimmung und/oder Persönlichkeitsmerkmalen) und moralisches NE (Traumatherapie). Die Substanzgruppen könnten in „Cognitive-Enhancers“ und „Mood-Enhancers“ eingeteilt werden. In die erste Gruppe fielen zum Beispiel Weckamine (Amphetamin), Methylxanthin-Derivate (­Coffein), Nootropica (Donepezil, Rolipram) und andere (Modafinil, Kokain, Ginko), in die zweite Gruppe gehörten Antidepressiva (Fluoxetin, Entactogene, Empathogene). Darüber hinaus gebe es auch ein gesellschaftlich legitimiertes NE:  Alkohol, Nikotin, Betablocker usw. Arzneimittelrechtlich stelle die Verbesserung kognitiver und emotionaler Parameter bei gesunden Menschen keine adäquate Indikation dar. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis sei per Definition negativ. „Die evolutionär bestehenden, natürlichen physiologischen Limitierungen oder individuelle Unzulänglichkeiten eines Menschen sind essenzieller Bestandteil seiner Individualität und nicht Ausdruck eines pathologischen Prozesses beziehungsweise einer Erkrankung.“ Weiergräber forderte eine Regulierung von pharmakologischem NE unter Berücksichtigung gesellschaftlicher, ethischer Grundsätze und soziokultureller Aspekte, um das NE-Phänomen nicht eskalieren zu lassen.

Risiken und Abhängigkeit

Privatdozentin Dr. phil. Sabine Müller, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, warf einen Blick auf die Risiken und das Abhängigkeitspotenzial von NE. Die Wirkstoffe Methylphenidat und Modafinil hätten ein relevantes Potenzial für schwerwiegende und sogar tödliche Nebenwirkungen. Es gebe das Risiko schwerwiegender psychiatrischer Komplikationen und das Risiko einer Suchtentwicklung, vor allem bei erhöhter Dosis und bei intravenöser oder intranasaler Applikation von Methylphenidat. Ohne ärztliche Aufklärung, ­Untersuchung und regelmäßige Kontrollen sollten diese Substanzen nicht eingenommen werden. Sie betonte, dass die Argumentation von NE-Befürwortern auf Grundlage von fiktiven nebenwirkungsfreien und nicht abhängig machenden NE irreführend sei. Das Abhängigkeitspotenzial und die weiteren medizinischen Risiken von NE würden dabei unterschätzt und die Wirksamkeit überschätzt – Sucht werde verharmlost.

Alternativen

Zum Abschluss stellte Dr. rer. biol. hum. Tim Pfeiffer vom IFT Institut für Therapieforschung gGmbH in München „Psychotherapeutische Ansätze und Strategien, die pharmakologisches NE überflüssig machen“ vor. Der Mensch habe grundsätzlich Schwierigkeiten damit, aversive Zustände zu ertragen. Durch Interventionen soll ein gewünschter Zielzustand erreicht werden. Die notwendigen Interventionen könnten aber anstrengend, mit Angst besetzt oder schmerzvoll sein. Außerdem dürfe der Zeitfaktor, bis der Zielzustand erreicht werde, nicht unterschätzt werden. NE könne verstanden werden als die Gesamtheit der Maßnahmen, die auf die Verbesserungen von mentalen Fähigkeiten oder Zuständen bei gesunden Menschen zielten. Die Hauptanwendungsgebiete, Aufhellung der Grundstimmung, Verbesserung bestimmter leistungsbezogener kognitiver Eigenschaften (Aufmerksamkeit, Konzentration, ­Gedächtnisleistung) und gezielte Entspannung könnten auch ohne pharmakologisches NE erreicht werden. Ausreichend Schlaf steigere die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit, kurze Spaziergänge an der frischen Luft und bei Tageslicht wirkten regenerierend und stimmungsaufhellend, regelmäßige kurze Pausen während intensiver Arbeitsphasen förderten die Aufnahmefähigkeit. Hilfreich sei eine ausgewogene Ernährung mit Obst und Gemüse, genügend Wasser trinken, Entspannungsübungen hälfen beim Umgang mit Stress. Denksport- und Gedächtnistrainings förderten die Merk- und Konzentrationsfähigkeit. Selbstwahrnehmungstrainings würden helfen, körpereigene Signale besser wahrzunehmen und Überlastungen vorzubeugen. Regelmäßiger Sport steigere die Belastungsfähigkeit. Konsum von Alkohol, Nikotin und bestimmten Medikamenten, die schädigend auf die Nervenzellen wirken könnten, sollten weitgehend vermieden werden. Auch das soziale Leben mit Gesprächen, Kontakten und dem Aufbau positiver Aktivitäten könne einen wichtigen Beitrag leisten. 

Autor Jodok Müller (BLÄK)    

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