Trojanisches Pferd

Dr. med. Gerald Quitterer, Präsident der BLÄK

Wir laufen Gefahr, dass unser bisher bewährtes Gesundheits­system demontiert wird. Dieses ist leistungsfähig und bietet sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich eine hochwertige Patientenversorgung. Das hat sich auch während der Pandemie gezeigt. Die generelle Forderung seitens Politik oder anderer Akteure im Gesundheitswesen, gewohnte Strukturen „aufzubrechen“ oder durch Reformen grundlegend zu verbessern, steht zum gerade in der Pandemie erbrachten Leistungsbeweis im Widerspruch. Verbesserungsmöglichkeiten gibt es zweifelsohne immer, was aber einer genauen Analyse und im Einzelfall konkreter Vorschläge bedarf. Jedoch nicht, indem man jeden am solidarisch finanzierten Gesundheitssystem teilhaben lässt, ohne konkrete Prüfung, ob dafür ein Bedarf besteht.

Ich denke dabei beispielsweise an den Vertrag einer bayerischen Krankenkasse, die Versicherten mit Atemwegserkrankungen über einen Telemedizinanbieter und einen Apothekendienstleister Zugang zu Ärztinnen und Ärzten anbietet, welche Patientinnen und Patienten mit Rezept und Krankschreibung versorgen, obwohl vorher kein persönlicher Kontakt bestand. Die Begründung der Krankenkasse ist dabei, dass teilnehmende Versicherte künftig bequem von zuhause aus die Videosprechstunde der Krankenkasse nutzen und damit gerade während der Pandemie die Praxen entlasten könnten. Digitales Versorgungsmanagement ist damit wohl gemeint. Stattdessen müsste es für Politik und Krankenkassen von größerer Bedeutung sein, den ambulanten Bereich durch Förderung der Niederlassung effektiv zu stützen, wenn es um die Nachhaltigkeit in der Patientenversorgung geht.

Wenn die Telemedizin die Konkurrenz zu niedergelassenen Ärzten wird, die die gesamte Infrastruktur für die Patientenversorgung vorhalten, dann ist sie nicht unterstützenswert. Dann wird sie zum ­Instrument von Begehrlichkeiten, die zusätzliche Versichertengelder kosten und bewährte Strukturen kaputtmachen. Und den nächtlichen Hausbesuch fährt dann wer? Ob die Krankenkasse dies zu Ende gedacht hat?

In einer Zeit, in der manch eine Arztpraxis nicht mehr nachbesetzt werden kann, halte ich Telemedizinanbieter, die mit dem Angebot zusätzlicher Verdienstmöglichkeiten für Ärzte werben, zusätzlich zum Praxis­alltag, ohne Bürokratie und Mehraufwand für das Praxis­team, für kontraproduktiv. Äußerst problematisch sind aus meiner Sicht auch digitale Gesundheitsanwendungen, die auf den Markt drängen, obwohl der Nutzen in Studien noch nicht nachgewiesen ist.

Digitalisierung mag in vielen Bereichen zweckmäßig sein. Sie ist aber zu hinterfragen, wenn sie primär der Gewinnung von Daten für Unternehmen oder Krankenkassen dient. Diese Gefahr sehe ich bei der elektronischen Patientenakte (ePA). Sicherlich ist es sinnvoll, wichtige Gesundheitsdaten, wie Notfalldaten, Allergien, ­Impfungen oder durchgeführte Untersuchungen zu speichern, um für die möglichen Behandler einen raschen Zugriff, insbesondere auch im Notfall, zu ermöglichen. Die Patienten müssen die Autonomie über diese Daten haben, auch, an wen und zu welchem Zweck sie diese zur Verfügung stellen. Das gelingt aber nicht, wenn das Anlegen dieser ePA der Regelfall ist und erst durch einen Widerspruch die Verwendung der Daten eingeschränkt werden kann
(sogenannte Opt-out-Lösung).

Eine andere Seite der Digitalisierung ist die Etablierung von Expertensystemen beziehungsweise künstlicher Intelligenz – oder wie wir es auch nennen „Machine Learning“ –, die in Entscheidungsprozesse zunehmend Einzug halten werden. Der Trainer eines ­Algorithmus ist dabei eine unbekannte Größe, die wir als Ärzte nicht im Griff haben und dessen Wirken einer rechtlichen Grundlage bedarf. Bei der Programmierung von klinischen Entscheidungsunterstützungssystemen gilt es künftig darauf zu achten, dass die Verwendung dieser Daten rechtmäßig, fair, sicher, transparent und rechenschaftspflichtig erfolgt. Nur so können und wollen wir Ärzte die Gesamtverantwortung für unsere Patienten übernehmen.

Ich halte es für hochproblematisch, wenn die Politik medizinische Entscheidungen trifft, ohne ärztliche Expertise adäquat zu berücksichtigen, wie beispielsweise bei der COVID-Auffrischimpfung, zu welcher es noch keine Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) gibt. Dagegen müssen wir uns wehren. Eine Impfpflicht darf es auch unter der nächsten Bundesregierung nicht geben. An der Einhaltung der AHA-L- Regeln (Abstand halten – Hygiene-Maßnahmen beachten – Alltagsmaske tragen – Lüften), auch bei Geimpften, führt kein Weg vorbei.

Abseits davon sollten Kliniken aus meiner Sicht nicht mehr nur entsprechend ihrer Fallzahl vergütet werden. Stattdessen ist es meines Erachtens notwendig, den tatsächlichen Behandlungsbedarf und die dafür nötigen Personal- und Vorhaltekosten besser zu berücksichtigen. Nur so kann zukünftig eine sinnvolle stationäre Patienten­versorgung sowie eine angemessene Bezahlung des Klinikpersonals sichergestellt werden. Was wir brauchen, ist eine sinnvolle Steuerung der Patienten in die für sie adäquate Versorgungsebene im Notfall durch die Strukturierte medizinische Ersteinschätzung Deutschland (SmED). Notaufnahmen und Kliniken können nicht ungefilterte Anlaufstelle für alle Patienten­probleme sein.

Aufgabe der Politik ist es, bewährte, auf ärztlicher Kompetenz beruhende Strukturen zu schützen und zu stützen und nicht Angebote von Krankenkassen und Gesundheitsunternehmen, die ihre Produkte ins System bringen wollen. Ärztliche Kompetenz muss die Grundlage der medizinischen Versorgung sein und bleiben.

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