Ungefragte Wortmeldungen

Dr. Gerald Quitterer

Nach dem Bundesrechnungshof, der die Entbudgetierung ärztlicher Leistungen als Treiber für höhere Krankenkassenbeiträge sieht, melden sich jetzt der Finanzminister und der Haupt­geschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeber zur telefonischen Krankmeldung zu Wort und fordern deren Abschaffung. Sie sei Ursache dafür, dass der Krankenstand in Deutschland ein Rekordhoch erreicht habe. Unterstellt wird dabei, dass ­Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dies ausnützten und sich so auf einfachem Wege krankmelden könnten. Mit dieser Kritik wird den Patientinnen und Patienten eine Täuschungsabsicht und uns Ärztinnen und Ärzten unreflektiertes Verhalten vorgeworfen. Was für eine Unterstellung an beide Seiten, die jetzt durch eine Studie widerlegt wird, der zufolge die elektronische Erfassung einerseits sowie andererseits die Tatsache zunehmender Infektionswellen und das Patientenverhalten, bei Infekten tatsächlich zuhause zu bleiben, für die hohen Zahlen wohl ursächlich sind. Wir Ärztinnen und Ärzte entscheiden verantwortungsbewusst und weisungsungebunden, welcher Kontakt in der Behandlung ­unserer Patientinnen und Patienten erstens angemessen und zweitens im Praxis­ablauf abgebildet werden kann. Wir verwehren uns gegen die Einmischung von Interessenvertretern jeglicher Art. Dies gilt ­genauso für Vorschläge, die mit der Ärzteschaft in keiner Weise abgestimmt und völlig realitätsfern sind, wie beispielsweise die Einführung ­einer „Halbtages-Arbeitsunfähigkeit“ (AU). Noch gar nicht berücksichtigt ist, welcher bürokratische Aufwand dabei dahintersteckt. Abgesehen davon deutet ein hoher Krankenstand vielmehr darauf hin, dass wir uns die Ursachen genauer ansehen müssen. Neben Infekten und Wirbelsäulenerkrankungen sind psychische Beeinträchtigungen zunehmend Ursache für eine AU. Letztere nahmen 2023 bereits Platz drei auf der AU-Häufigkeitsskala ein.

Grund genug, den Ansatz „Health in all Policies“, eine von der WHO verfolgte Strategie, konsequent umzusetzen. Sie geht ­zurück auf das umfassende Verständnis von Gesundheitsförderung der Ottawa Charta der WHO aus dem Jahr 1986. Während es auf internationaler Ebene schon seit längerer Zeit etablierte Umsetzungen gibt, wird der Ansatz in Deutschland erst allmählich verfolgt.

Hierzu zählen unter anderem die Arbeits-, Bildungs-, Stadtentwicklungs-, Wirtschafts- und Umweltpolitik; außerdem können ­Politikfelder wie die Innere Sicherheit, Landwirtschaft oder Familien­politik ihren eigenen Beitrag zur Gesundheitsförderung leisten. So bieten aktuell viele umweltbezogene Maßnahmen neben dem Ziel des Gesundheitsschutzes auch Möglichkeiten für Gesundheitsförderung und verhältnisbezogene Prävention: leise Orte mit geringer Luftbelastung sowie einer attraktiven Grünraum- und Wasserflächengestaltung eröffnen vielfältige Möglichkeiten. Hier ist eine gesamtgesellschaftliche Veränderung erforderlich, die im Zusammenhang mit umweltbezogenen Entwicklungen als große Transformation bezeichnet wird. Ein Lernen von Strategien der Klimapolitik kann demnach auch für die Strategie, Gesundheit in allen Politikfeldern zu verfolgen, dienlich sein: „Außerdem sind strukturelle und organisatorische Ansätze gegebenenfalls auf das Gesundheitswesen zu übertragen, denn auch Klimapolitik verfolgt (...) eine „In-All-Policies-Strategie“.

Dem Gesundheitssektor und nicht zuletzt uns Ärztinnen und ­Ärzten kommt also hier eine tragende Rolle zu, in die wir auch im Sinne von „Public Health“ und, weitergedacht, auch „Planetary Health“ eingebunden sind. „Ärzte können eine wichtige Rolle bei der ­Bekämpfung und Reduzierung von Gesundheitsungleichheiten spielen, indem sie ihren Einfluss und ihre Expertise sowohl auf individueller als auch auf systemischer Ebene nutzen.“

Dazu fordern wir den Freiraum und die Anerkennung für unsere Tätigkeit, die neben der Krankheitsversorgung der Bevölkerung auch den präventiven Ansatz in den Vordergrund stellt. Was wir leisten, hat sich nicht zuletzt in der Corona-Pandemie gezeigt. Hier benötigen wir die Unterstützung der Politik mit Gesetzen, welche die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung fördern, den ­Gesundheitsunterricht in Schulen verpflichtend machen, die Werbung für ungesunde Lebensmittel verbieten, zuckerhaltige ­Getränke wirksam besteuern und auch den Medienkonsum für Kinder und Jugendliche begrenzen. Diese Maßnahmen bestärkten beispielsweise Anträge des Bayerischen Ärztinnen- und Ärzte­tages 2024, die handyfreie Schulen und das freie Spiel fordern oder auch die Integration nachhaltiger Konzepte zur Verbesserung der Gesundheitsbildung in den Schulunterricht. So argumentierten die Delegierten in dem Beschluss zu „Smartphone-­freien Schulen in Bayern“, dass so eine Maßnahme ein entscheidender Schritt sei, um die Lernumgebung für Schülerinnen und Schüler zu verbessern. Zahlreiche Studien und Berichte belegten die ­negativen Auswirkungen von Smartphones auf die Konzentrationsfähigkeit und das soziale Miteinander in der Schule. Ebenso sprachen sich die Delegierten für die Einführung einer Zuckersteuer aus, da die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und ­Jugendlichen in Deutschland sich weiterhin auf einem besorgniserregend hohen Niveau befände, was zu erhöhten Gesundheitsrisiken, wie Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes und Depressionen führe. Zudem zeigten internationale Erfahrungen die Wirksamkeit von Zuckersteuern. Bleibt noch zu erwähnen, dass wir Gewalt ­gegen Ärztinnen und Ärzte als besonderen Straftatbestand für die gesamte Berufsgruppe, einschließlich der bei uns beschäftigten nichtärztlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, fordern.

Das wäre zielführender als das derzeitige Debakel um das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) oder um das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG), die nach Lesungen und Anhörungen in Bundestag und Bundesrat ­immer noch breite Kritik auf sich ziehen und keine Lösungsansätze für eine Stärkung der Versorgung bieten. Gesetze sollen bestehende Strukturen stärken, verantwortungsvolle Ansätze für eine Weiterentwicklung formulieren und eine breite Akzeptanz erzielen. Hier nehme ich die Regierung in die Verantwortung. Essenzielle Dinge, wie beispielsweise die neue Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte oder ein echtes Praxisstärkungsgesetz, bleiben auf der Strecke, dabei wären diese ein wichtiger Baustein einer „Public-Health-Strategie“.

Wenn uns nun vom Bundesgesundheitsminister im Zusammenhang mit unseren berechtigten Forderungen Lobbyismus vorgeworfen wird, so hat er das Wesen der Ärztekammern nicht verstanden. Sie haben die Aufgabe, im Rahmen der Gesetze die beruflichen Belange der Ärztinnen und Ärzte wahrzunehmen, die Erfüllung der ärztlichen Berufspflichten zu überwachen, die ärztliche Fortbildung zu fördern, soziale Einrichtungen für Ärztinnen und Ärzte und deren Angehörige zu schaffen sowie in der öffentlichen Gesundheitspflege mitzuwirken. Dies sind die Grundpfeiler der funktionalen ärztlichen Selbstverwaltung, die die Partizipation durch Einbeziehung gesellschaftlicher ­Selbstorganisationskräfte sicherstellt und das demokratische Prinzip ergänzt sowie verstärkt. Die ärztliche Berufsvertretung unterscheidet sich somit grundlegend von Lobbyismus, Lobbying oder Lobbyarbeit. In Brüssel, Berlin, aber auch in Landesparlamenten, wie etwa in München, versuchen zahlreiche Interessengruppen, Einfluss auf politische Entscheidungsträgerinnen und -träger auszuüben. Das ist nichts Neues: Lobbyisten, die ihre Interessen gegenüber der Politik und der Gesellschaft vertreten, gehören zur Demokratie dazu. Die ärztliche Berufsvertretung ist jedoch nicht mit dieser Art des Agierens im vorpolitischen Raum gleichzusetzen, ist dies doch qua gesetzlichem Auftrag ihre Aufgabe. Diese werden wir weiter mit Nachdruck wahrnehmen und die Interessen unserer Profession verteidigen. Gegen die Einflussnahme Dritter. Zum Wohle unserer Patientinnen und Patienten.

Irgendwann wird jede und jeder vielleicht einmal krank werden, und dann feststellen, dass uns Ärztinnen und Ärzte behandeln, nicht Politikerinnen und Politiker!

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