Vertrauliche Spurensicherung bei Opfern sexueller Gewalt
In einer Repräsentativbefragung zum Thema sexuelle Gewalt, die 2016 im „Deutschen Ärzteblatt“ veröffentlicht wurde, gaben 1,2 Prozent der Frauen und 0,6 Prozent der Männer an, in den letzten zwölf Monaten sexuelle Gewalt erlebt zu haben [1].
Sexuelle Gewalt kann gravierende körperliche und psychosoziale Folgen haben. Sexuelle Gewalt ereignet sich häufig im sozialen Nahraum der Beteiligten, aber auch völlig überraschend durch Fremdtäter. Sehr häufig von sexueller Gewalt betroffen sind Frauen, aber auch andere Gruppen wie alte Menschen oder Menschen mit Behinderung. Aufgrund der häufigen Inanspruchnahme des Gesundheitssystems durch Gewaltopfer [2] ist der Erstkontakt mit Gesundheitspersonal für den weiteren Verlauf und für die Stabilisierung des Opfers entscheidend. Der Umgang mit Gewaltopfern, das Erkennen der Gewaltspuren, die richtige Dokumentation und vor allem Spurensicherung stellt nach wie vor eine große Herausforderung im Praxis- oder Klinikalltag dar.
Wie kürzlich in den Medien veröffentlicht, will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erreichen, dass gesetzliche Krankenkassen die sogenannte „vertrauliche Spurensicherung bei sexualisierter Gewalt“ in Praxen oder Kliniken erstatten. Man spricht von einer vertraulichen Spurensicherung, wenn eine Dokumentation und Spurensicherung, unabhängig davon, ob das Opfer sofort Anzeige erstellen möchte oder nicht, durchgeführt wird. Wie nach einem Sexualdelikt vorgegangen wird, hängt immer von den Betroffenen ab. Das Opfer steht oft unmittelbar nach der Tat unter Schock oder ist traumatisiert. Daher kann die Entscheidung für oder gegen eine Anzeige schwierig sein, vor allem, wenn es sich um einen Täter aus dem eigenen Umfeld handelt. So passiert es, dass sich Betroffene in Klinik oder Praxis vorstellen, ohne dass bereits die Polizei involviert ist.
Die Kostenübernahme der vertraulichen Spurensicherung ist in Deutschland nicht einheitlich geregelt. Sobald aber eine Anzeige bei den Strafverfolgungsbehörden erfolgt ist, übernimmt die Kosten die Polizei oder die Staatsanwaltschaft.
Vorgehen bei einer körperlichen/genitalen Untersuchung bei Opfern von sexueller Gewalt
Die akute medizinische Versorgung nach sexueller Gewalt ist bisher nicht standardisierter Bestandteil der Ausbildung von Ärztinnen, Ärzten und weiteren Fachkräften im Gesundheitswesen. Standards und Richtlinien für die Versorgung geben unter anderem die WHO, die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, aber auch Publikationen von rechtsmedizinischen Instituten [3–6]. Oberstes Gebot ist ein sensibles, empathisches, trotzdem objektives und neutrales Vorgehen bei der Behandlung von Betroffenen.
Eine Untersuchung soll folgende Elemente beinhalten.
» komplette körperliche Untersuchung und Versorgung etwaiger Verletzungen,
» Erhebung der gynäkologischen Vorgeschichte und gynäkologische/genitale Untersuchung,
» Dokumentation und Spurensicherung,
» Testung auf sexuell übertragbare Krankheiten und Einleitung einer Postexpositionsprophylaxe nach Abschätzung des Infektionsrisikos,
» Untersuchung auf möglichen Einfluss von Sucht- oder Betäubungsmittel,
» Beratung zur Verhinderung einer ungewollten Schwangerschaft,
» Hinweis auf notwendige Kontrolluntersuchungen und Organisation eines Folgetermins
und
» Prüfung des Schutzbedürfnisses sowie Vermittlung an weitere Hilfen.
Mit den Betroffenen wird zunächst ein ausführliches Gespräch über ein stattgehabtes Delikt geführt. Je detailreicher eine Vorgeschichte erfolgt, umso besser kann mit den Betroffenen besprochen werden, wo am Körper welche Spuren gesichert werden können.
Nach der Anamnese bespricht man mit Betroffenen die weiteren Untersuchungsschritte.
Es folgt in der Regel eine körperliche und genitale Untersuchung (bei Gynäkologinnen und Gynäkologen auch gynäkologische Untersuchung). Dabei wird unabhängig von der Tathandlung der gesamte Körper schrittweise untersucht. Es ist darauf zu achten, dass nur jeweils die zu untersuchende Körperregion unbekleidet ist bzw. umgekehrt alle nicht zu untersuchenden Körperregionen bedeckt bleiben.
Die genitale Untersuchung bei Vorliegen einer sexuellen Gewalttat erfolgt als Inspektion des äußeren Genitales auf dem gynäkologischen Stuhl ohne Verwendung von Instrumenten, allenfalls lediglich einem Wattetupfer zum Ausstreichen des Hymens. Liegen blutende Verletzungen vor oder befinden sich Gegenstände in der Vagina oder dem Anus, muss die genitale Untersuchung in einer gynäkologischen Klinik erfolgen.
Auch hier kann nach Absprache mit den Betroffenen nicht nur eine Dokumentation von Verletzungen in Wort, sondern auch in Bild erfolgen. Dies kann unter Umständen eine zweite Untersuchung verhindern.
Bei einer gynäkologischen Untersuchung sollte weiterhin eine Untersuchung auf Infektions- und Geschlechtskrankheiten erfolgen und eine Beratung zur Verhinderung einer ungewollten Schwangerschaft.
Das Schutzbedürfnis der Betroffenen soll geprüft werden und in Abhängigkeit von der psychischen Situation, müssen Hilfen wie zum Beispiel Beratung und psychosoziale Begleitung durch den Frauennotruf, Überweisung in ein Frauenhaus, gegebenenfalls eine stationäre Aufnahme in eine Klinik und/oder psychiatrisches Konsil veranlasst werden.
Dokumentation
Zur Dokumentation verwendet man einen Dokumentationsbogen, der in vielfältiger Weise über verschiedene Internetportale zu erhalten ist, unter anderem auf der Homepage des Instituts für Rechtsmedizin der Universität München
(www.rechtsmedizin.med.uni-muenchen.de/wissenschaft/klinische_rechtsmed/ambul_gewaltopfer/index.html#spurenasservierung).
Bei der Verwendung eines Dokumentationsbogens sind folgende Kriterien erfüllt:
» Standardisierte Dokumentation
» Beweismittel in einem Strafverfahren
» Gedächtnisstütze in einem späteren Gerichtsverfahren
Jede Verletzung muss nach folgenden Kriterien beschrieben werden: Form, Farbe, Größe, genaue Lokalisation, Randbereich, gegebenenfalls Tiefe.
Nach dieser Beschreibung auf dem Körperschema zum Beispiel auf dem Dokumentationsbogen erfolgt die fotografische Dokumentation. Dazu befragt man die Betroffenen, ob sie damit einverstanden sind und lässt sich dies gegebenenfalls auch unterschreiben.
Bei der Fotodokumentation ist zuerst eine Übersichtsaufnahme von der Körperregion durchzuführen, in der sich die Verletzung befindet, danach erfolgt mit einem Maßstab eine Detailaufnahme, orthograd zur Verletzung.
Spurensicherung
Bei sexueller Gewalt können folgende Spuren übertragen werden:
» Hautpartikel
» Speichel
» Spermien
Hautpartikel und Speichel:
Getrennt nach Lokalisation drei gegebenenfalls mit Aqua bidestillata angefeuchtete Wattetupfer verwenden und die Körperstelle kräftig und flächig abreiben. Wattetupfer dann asservieren.
Sperma:
Getrennt nach Lokalisationen verwendet man je drei langstielige Wattetupfer. Erfolgt ein Abrieb auf zum Beispiel Haut oder am/im After kann der Wattetupfer vorher mit Aqua bidestillata angefeuchtet werden.
Die Wattetupfer müssen trocken und bei Raumtemperatur gelagert werden. Dazu können EtOH-bedampfte Wattetupfer in Transportröhrchen mit Belüftungsmembran verwendet werden. Die Wattetupfer müssen mit Patientenetikett sowie Angabe von Abstrichlokalisation, Datum und Uhrzeit gekennzeichnet sein. Eine anonyme Spurensicherung ist nicht möglich, da Spuren einer bestimmten Person zugeordnet werden müssen. Aber auch Spuren müssen datengeschützt gelagert werden, sodass vorab eine vertrauliche Spurensicherung Betroffenen zugesichert werden muss.
Die Aufbewahrung von gegebenenfalls mehreren Tupfern kann über atmungsaktive Spurensicherungstaschen wie zum Beispiel Deba-Breathe™ erfolgen.
Sollte die Asservierung von Kleidungsstücken oder anderen Textilien notwendig sein, sollte eine Aufklärung der Betroffenen über die Verwendung von Papiertüten (atmungsaktiv!) und Meidung von Plastik (nicht atmungsaktiv!) erfolgen.
Mit den Betroffenen kann die Zeitdauer der Spurenasservierung besprochen werden. Hilfreich ist dazu die Verwendung eines Info-Zettels, auf dem nicht nur der Name des Instituts/der Klinik und der Name der Untersucherin oder des Untersuchers enthalten ist, sondern unter anderem auch die Zeitdauer der Asservierung der Spuren.
Letztlich wird die Untersuchung von Betroffenen viel Zeit in Anspruch nehmen. Dies sprengt den Rahmen einer Behandlung in einer Praxis, es sei denn, man ist dort auf eine Versorgung derartiger Patientinnen oder Patienten vorbereitet. In der Regel suchen Betroffene Kliniken auf, in denen sich gynäkologische Ambulanzen befinden. Auch wenn eine kompetente deliktspezifische Versorgung von Betroffenen nicht immer in solchen Ambulanzen gewährleistet ist, muss dort nach Übernahme des Behandlungsauftrages zumindest die klinisch-medizinische Versorgung durchgeführt werden, um danach die Weiterüberweisung an kompetentere Zentren in die Wege leiten zu können. Diese können auftragsgemäß den beschriebenen Ablauf durchführen, um anschließend gemäß ihrer Fürsorgepflicht das weitere Procedere mit den Betroffenen, wie zum Beispiel Einleitung weiterer Hilfen, Anzeigeerstattung usw., besprechen zu können.
Fazit
Aus dem gesamten beschriebenen Ablauf geht hervor, dass die medizinische Gesamtversorgung von Betroffenen weit mehr ist, als nur eine vertrauliche Spurensicherung. Sie beinhaltet viele Schritte und Untersuchungen und erfordert eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen klinischer Medizin, Rechtsmedizin und psychosozialer Beratung. Dies nimmt personelle und finanzielle Ressourcen in Anspruch, die mit der Notfallpauschale, die Kliniken für die Versorgung bekommen, nicht abgedeckt sind. Zudem ist die Versorgung von Betroffenen durch die zeitlichen und räumlichen Rahmenbedingungen in den meisten Kliniken erschwert. Dennoch sollte die Versorgung von Opfern von (häuslicher) Gewalt, im speziellen sexueller Gewalt, nach den oben genannten Kriterien erfolgen, da der Behandlungsauftrag in diesen Situationen nicht mehr auf die rein kurative Tätigkeit beschränkt bleiben kann.
Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.
Autorinnen
Professorin Dr. Elisabeth Mützel
Institut für Rechtsmedizin der Universität München, Nußbaumstr. 26, 80336 München
Marion Chenevas-Paule
Fachstelle Frau & Gesundheit und Gendermedizin, Landeshauptstadt München,
Referat für Gesundheit und Umwelt, Bayerstraße 28A, 80335 München
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