Vor 100 Jahren: An der Novemberrevolution in Bayern sind auch einige Ärzte beteiligt
Vor 100 Jahren, am 7. November 1918, stürzt eine kleine Gruppe um den Unabhängigen Sozialdemokraten Kurt Eisner den bayerischen Monarchen Ludwig III. In der Nacht proklamiert Eisner den „Freien Volksstaat Bayern“ – die Geburtsstunde des heutigen Freistaats. Zwei Tage später folgt die Reichshauptstadt: Philipp Scheidemann ruft in Berlin die „deutsche Republik“ aus und erklärt den Kaiser für abgesetzt.
Am Umsturz in Bayern und der anschließenden sogenannten „Rätezeit“ sind auch mehrere Ärzte beteiligt.
7. November 1918: Die bayerische Revolution beginnt auf der Theresienwiese
Am 7. November versammeln sich auf der Theresienwiese zwischen 40.000 und 60.000 Menschen, darunter auffallend viele Frauen, um für den Frieden zu demonstrieren. Die Stimmung in der Bevölkerung ist äußerst gereizt: Man muss stundenlang anstehen, um ein paar Lebensmittel oder Brennmaterial zu ergattern. Die Durchhalteparolen der Regierung haben sich als Lügen herausgestellt, die vollständige militärische Niederlage ist besiegelt. Ludwig III. ist in der Bevölkerung seit seinem Regierungsantritt unbeliebt, weil er sich zu einem Zeitpunkt krönen ließ, als der eigentlich rechtmäßige Throninhaber, der geisteskranke Otto, noch am Leben war.
Nach dem Ende der Kundgebung zieht die große Masse der Teilnehmer auf Veranlassung der Mehrheitssozialdemokratischen Partei (MSPD) und der Gewerkschaften von der Theresienwiese zum Friedensengel. Dort löst sich die Versammlung auf.
Zur gleichen Zeit steuert ein vergleichsweise kleiner Demonstrationszug mit Kurt Eisner und Felix Fechenbach von der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) an der Spitze die innerstädtischen Kasernen an (die USPD hatte sich 1917 von der SPD abgespalten, weil zahlreiche Parteimitglieder nicht mehr bereit waren, die Burgfriedenspolitik der Mehrheit mitzutragen). Die USPD-Anhänger wollen die Soldaten für den Umsturz gewinnen. Das gelingt. Das Militär ist nicht mehr bereit, für das alte Regime zu kämpfen und schließt sich spontan den Revolutionären an. In kürzester Zeit sind die wichtigsten städtischen Einrichtungen wie der Hauptbahnhof, das Telegrafenamt und der Bayerische Landtag ohne Blutvergießen von den Aufständischen besetzt. Im Mathäserbräu konstituiert sich ein Arbeiter- und Soldatenrat. Zum Vorsitzenden wurde Kurt Eisner ausgerufen. In der ersten öffentlichen Sitzung des „Provisorischen Nationalrates des Volksstaates Bayern“ im Landtagsgebäude in der Prannerstraße wird Eisner am 8. November 1918 per Akklamation zum Ministerpräsidenten gewählt. Dem Kabinett Eisner gehören vier Minister aus der MSPD an, zwei aus der USPD und ein Parteiloser. In der neuen Regierung gibt es erstmals ein Ministerium für soziale Fürsorge, Amtschef ist Hans Unterleitner von der USPD. Ein Gesundheitsministerium ist nicht vorgesehen.
Die bayerische Ärzteschaft bietet der neuen Regierung ihre Mitarbeit an
Die Ärzte im neu geschaffenen Freistaat reagieren abwartend auf die veränderte politische Lage. Das Bayerische Ärztliche Correspondenzblatt berichtet über eine Ärzteversammlung in München am 19. November 1918: „Der Vorsitzende, Herr Kerschensteiner, begrüßt die Versammlung in einer kurzen Ansprache. Heute käme es nicht in Betracht“, zitiert die Zeitung Kerschensteiner, „ob der einzelne mit Freude oder Trauer die vorangegangene Umwälzung ansehe, der Arzt solle als solcher keine Politik treiben. Die Neuordnung der Dinge stelle aber die Ärzte vor äußerst wichtige Aufgaben sowohl auf dem Gebiete der Volksgesundheitspflege sowie hinsichtlich der Organisation, und da heiße es, rasch und geschlossen handeln.“
Der Internist Hermann Kerschensteiner, geboren 1873 in Ansbach, ist während der Revolutionszeit einer der engagiertesten Standespolitiker. Als Vorsitzender des Ärztlichen Bezirksvereins München plädiert er für einen bayerischen Ärztetag als schlagkräftige Dachorganisation der damals acht regionalen Bezirksvereine und Kammern. Seit 1909 ist Kerschensteiner Oberarzt am Schwabinger Krankenhaus in München, 1920 wird er zum Direktor ernannt. Dieses Amt übt er bis zu seinem Tod im Jahr 1937 aus.
Der Ärztliche Bezirksverein Nürnberg geht sogar noch einen Schritt weiter als Kerschensteiner, wie das Correspondenzblatt in seiner Ausgabe vom 30. November 1918 schreibt: „Die Nürnberger Ärzteschaft stellt sich unbeschadet der Überzeugung und Gesinnung jedes einzelnen auf den Boden des neuen Volksstaates und ist bereit, im Dienste des Volkswohls mit ganzer Kraft zu schaffen zur Hebung der Volksgesundheit, zur Bekämpfung der Volksschäden, zur Pflege eines gesunden, geistig und körperlich immer mehr erstarkenden Volksganzen.“
Die Ärzteschaft fordert die Einrichtung eines Gesundheitsministeriums
Einig sind sich die bayerischen Ärzte in ihrem Verlangen nach einem eigenständigen bayerischen Gesundheitsministerium, das ein Mediziner leiten soll. In der gleichen Ausgabe vom 30. November berichtet das Correspondenzblatt über eine Versammlung Münchner Ärzte, auf der einstimmig folgende Forderung beschlossen wurde: „Die Schaffung eines Ministeriums für Volksgesundheitspflege wie in Österreich mit einem Arzt an der Spitze. Diesem Ministerium soll derjenige Teil des Ministeriums für soziale Fürsorge angegliedert werden, der die sozialhygienischen Fragen umfasst.“
Franz Koelsch, erster Landesgewerbearzt in Bayern, war im Ministerium für soziale Fürsorge der Revolutionsregierung Referent für Sozialhygiene.
Das angesprochene Referat im Ministerium für soziale Fürsorge leitet der Mediziner Franz Koelsch. Koelsch wird 1876 in Eichstätt geboren. Nach der Approbation praktiziert er lange Jahre als Landarzt im Fichtelgebirge. Viele seiner Patienten sind Beschäftigte in Holz- und Steinbetrieben und in der Glas- und Porzellanindustrie. Koelsch verwertet diese Erfahrungen in zahlreichen Veröffentlichungen zur Arbeitsmedizin. 1909 wird er zum ersten Landesgewerbearzt in Bayern ernannt. Seine Dienststelle ist zunächst beim Staatsministerium für das Königliche Haus und für das Äußere angesiedelt. Nach der Revolution wechselt Koelsch in das von Eisner neu geschaffene Sozialministerium und ist hier jetzt auch für die Volksgesundheit zuständig.
Wittelsbacher Palais, Sitz des Aktionsausschusses (Regierung) in der Räterepublik und später Arbeitsstätte von Franz Koelsch.
Gedenktafel an der Münchner Brienner Straße. An der Stelle des ehemaligen Wittelsbacher Palais befindet sich heute ein Gebäude der Bayerischen Landesbank. © Rufus46
„Mein neuer Chef war der revolutionäre Ministerpräsident Eisner, mein Abteilungsleiter war Hans Unterleitner“, schreibt Koelsch 1962 in seiner kleinen Autobiografie „Mein Leben und Streben“. Das Amt als bayerischer Landesgewerbearzt übte er bis zu seinem 74. Lebensjahr aus. 1950 trat er nach über 41 Dienstjahren in den Ruhestand. 1970 ist er – mit 94 – in Erlangen gestorben.
Die Landtagswahlen vom 12. Januar 1919 bescheren Kurt Eisners USPD eine katastrophale Niederlage
Bei den Wahlen zum Bayerischen Landtag gilt erstmals ein allgemeines und freies Wahlrecht. Auch Frauen sind jetzt zum ersten Mal stimmberechtigt. Das Ergebnis ist für die USPD niederschmetternd: Eisners Partei kommt nur auf 2,5 Prozent, die MSPD erzielt 33 Prozent der Stimmen und die konservative Bayerische Volkspartei (BVP), die eine Diffamierungskampagne gegen die „jüdisch-bolschewistische Revolution“ geführt hatte, kann sich über 35 Prozent freuen. Es zeigt sich, dass die Revolution außerhalb Münchens nur einen sehr geringen Rückhalt besitzt.
Das Regieren ist für das Kabinett Eisner durch das Wahlergebnis fast unmöglich geworden. Tiefgreifende politische Veränderungen wie die Sozialisierung von Unternehmen und Banken bleiben aus. Die Auseinandersetzungen zwischen linken Gruppierungen wie der Kommunistischen Partei (KPD) und rechtsgerichteten Organisationen wie der antisemitischen Thule-Gesellschaft spitzen sich zu. Am 21. Februar 1919 entschließt sich der Ministerpräsident zurückzutreten. Auf dem Weg zum Landtag – die Rücktrittsrede in der Tasche – wird Eisner von dem Studenten Graf Anton von Arco auf Valley, der der Thule-Gesellschaft nahe steht, erschossen. Die sogenannte „Zweite Revolution“ beginnt.
Eisners Ermordung führt zu einem Machtvakuum
Nach Eisners Ermordung verschärft sich der Konflikt zwischen den Anhängern einer parlamentarischen Demokratie und den Befürwortern eines reinen Rätesystems. In der Auseinandersetzung gewinnen die Räte-Anhänger zunehmend an Einfluss. Am 17. März wählt der Landtag zwar noch einen neuen Ministerpräsidenten, den MSPD-Politiker Johannes Hoffmann, der einen Tag später sein Kabinett vorstellt. Kurz darauf vertagt sich jedoch der Landtag auf unbestimmte Zeit. Dem neuen Kabinett Hoffmann fehlt dadurch der Rückhalt, um sich gegenüber dem wachsenden Machtanspruch der Räte zu behaupten. Die tatsächliche Regierungsgewalt liegt nun faktisch in den Händen des sogenannten „Zentralrats“ der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte.
Die bayerische Ärzteschaft distanziert sich von der Revolution
Die Ärzteschaft, die anfangs noch eine Bereitschaft zur Mitarbeit signalisiert hatte, ändert nun ihre Haltung. Die Mediziner kritisieren die zunehmende Radikalisierung, der Ton gegenüber den Revolutionären wird schärfer. In der Münchener Medizinischen Wochenschrift heißt es Ende Februar: „Die heutige Nummer musste um einen Tag früher fertiggestellt werden, da der zur Zeit in München diktatorische Gewalt ausübende Arbeiter- und Soldatenrat angeordnet hat, dass morgen, also dem Tage der Beisetzung des einem Attentat zum Opfer gefallenen Ministerpräsidenten Kurt Eisner, nicht gearbeitet werden darf.“
Ferdinand Sauerbruch, Chirurg, operierte den Mörder Kurt Eisners, Graf Arco, und versteckte ihn vor den Revolutionären. Foto: BArch, Bild 183-R45871
Der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch, der zu dieser Zeit an der Universitätsklinik in München tätig ist, behandelt den Eisner-Mörder Graf Arco und versteckt ihn, um ihn vor den rachsüchtigen Revolutionären zu schützen, wie er später in seiner Autobiografie „Das war mein Leben“ behauptet: „Eines Morgens, ich operierte gerade, wurde mir gemeldet, dass mich eine Delegation wegen Graf Arco sofort sprechen müsse. Als ich vor die Leute hintrat, eröffneten sie mir: Die Regierung habe soeben ein Gesetz unterzeichnet, nach dem Graf Arco zum Tode verurteilt worden sei. Ich solle ihn herausgeben. Zur Hinrichtung.“ Diese Aussage ist freilich sehr zweifelhaft und dürfte kaum der Wahrheit entsprechen, da kein einziges Todesurteil der Revolutionsgerichte bekannt ist.
Die dritte Phase der Revolution beginnt: Die Räterepublik wird proklamiert
Am 7. April 1919 beschließen der Zentralrat unter dem Vorsitz von Ernst Niekisch und der Revolutionäre Arbeiterrat in einer gemeinsamen Sitzung die Ausrufung der „Räterepublik Baiern“. Die Verwendung des „i“ statt des „y“ im Namen ist eine antimonarchistische Spitze gegen die Schreibweise, die König Ludwig I. eingeführt hatte. Ein Gremium von Volksbeauftragten bildet die neue Regierung. Das Kabinett Hoffmann flieht daraufhin nach Bamberg, auch der Landtag verlässt München.
In der Münchener Medizinischen Wochenschrift heißt es dazu am 9. April: „In der Nacht von 6. auf 7. April hat sich mit Ausrufung der Räterepublik die dritte Revolution vollzogen, deren Männer grundstürzende Veränderungen im Staats- und bürgerlichen Leben mit unheimlicher Hast ins Werk zu setzen beginnen.“
Anarchisten und Literaten prägen diese Räterepublik, die deshalb auch als „Anarchistische Räterepublik“ bezeichnet wird. Vorsitzender des Zentralrats wird – nach dem Rücktritt von Ernst Niekisch – der 25-jährige Schriftsteller Ernst Toller, der damit formell als Staatsoberhaupt fungiert. Beauftragter für Volksaufklärung, also Kultusminister, ist der Philosoph und Anarchist Gustav Landauer. Das Finanzministerium leitet der Kaufmann und Sozialreformer Silvio Gesell. Zu seinem Pressesprecher ernennt er einen Mediziner, den Schweizer Theophil Christen. Christen ist nicht nur Arzt, sondern auch Mathematiker und Physiker. Seit 1915 lebt er in München und leitet hier ein privates Institut für Strahlenforschung. Er gilt als Kapazität auf dem Gebiet der physikalischen Medizin, insbesondere der Strahlen- und Röntgenwissenschaft. Wie sein Amtschef Gesell ist Christen ein überzeugter Verfechter der Freigeld-Theorie. „Freigeld“, auch „Schwundgeld“ genannt, unterliegt – ebenso wie die menschliche Arbeitskraft oder Waren und Sachgüter – einem Werteverfall. Wer Freigeld anlegt, erzielt keine Zinsen, sondern erleidet längerfristig gesehen einen Verlust. Privatpersonen und Unternehmen werden auf diese Weise motiviert, das Geld im Umlauf zu halten.
Theophil Christen, Arzt, Mathematiker und Physiker, war in der zweiten Räterepublik Pressesprecher des Finanzministers. Foto: Schweizerisches Sozialarchiv/Sozarch_F_5051-Zx-017
In einem Beitrag für die Medizinische Wochenschrift führt Theophil Christen aus, dass die Einführung des Freigelds zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen würde, gerade auch im Gesundheitswesen: „Früher haben die Ärzte, mehr oder weniger bewusst, nach der Seite der großen Zinsgenießer geschielt (…) Denn die Zinsgenießer konnten weit höhere Honorare zahlen als die Arbeitenden. Damit hat es unter der Freiwirtschaft ein Ende.“
Ein gescheiterter Putschversuch führt zur zweiten, der „Kommunistischen Räterepublik“
Am 13. April 1919 unternimmt die SPD-nahe Republikanische Schutztruppe den Versuch, die Räteregierung um Ernst Toller und Gustav Landauer zu stürzen. Der nach Bamberg geflohene Ministerpräsident Hoffmann gibt dazu ausdrücklich sein Einverständnis. Dieser sogenannte „Palmsonntagsputsch“ wird noch am selben Tag von der Roten Armee mit dem Matrosen Rudolf Egelhofer (KPD) an der Spitze niedergeschlagen. Die Kämpfe fordern 21 Tote. Als Reaktion auf den Umsturzversuch rufen die Betriebs- und Soldatenräte am Abend im Hofbräuhaus die „Kommunistische Räterepublik“ aus. Ein Aktionsausschuss mit den Kommunisten Eugen Leviné und Max Levien als Führer übernimmt die Regierungsgewalt.
Die Münchener Medizinische Wochenschrift urteilt über die neuen Machthaber: „Zwangsmäßig durchgeführter Generalstreik, Stillstand des Verkehrs, Unterdrückung der Presse, Schließung der Universität und Absetzung des Senats bilden die Signatur dieser Herrschaft.“
Ein Arzt wird bayerischer Gesundheitsminister
Die Ärzteschaft lehnt die zweite Räterepublik entschieden ab, obwohl die neue Regierung eine ihrer wichtigsten Forderungen erfüllt: Der Münchner Arzt Rudolf Schollenbruch wird zum Volksbeauftragten für das Gesundheitswesen, und damit zum Gesundheitsminister ernannt. Der 63-jährige Schollenbruch ist seit vielen Jahren im Münchner Arbeiterviertel Giesing als „Armenarzt“ bekannt. Viele Patienten behandelt er kostenlos. Wegen seiner politischen Gesinnung gerät er immer wieder mit der ärztlichen Standesvertretung und den Behörden in Konflikt. Vorübergehend wird ihm die Behandlung von Kassenpatienten untersagt, was praktisch einem Berufsverbot gleichkommt.
Rudolf Schollenbruch, Münchner Armenarzt, war in der zweiten Räterepublik Gesundheitsminister und Arzt der Roten Armee. Foto: BArch, Bild Y 10-1992-315-00
Schollenbruch ist also nicht beliebt unter den Kollegen. Entsprechend abschätzig kommentiert denn auch die Medizinische Wochenschrift seine Berufung zum Gesundheitsminister: „Dr. R. Schollenbruch ist ein bekannter Münchener Kassenarzt. Seine Ernennung zum Leiter des gesamten Sanitätswesens beleuchtet besser als irgend etwas anderes die Verhältnisse, unter denen wir hier leben.“
Der neue Minister entwirft in einem Tagebuch stichpunktartig sein gesundheitspolitisches Programm: „Verstaatlichung der Ärzte. Nur eine Klasse für alle Patienten in den Krankenhäusern. (…) Alle Titel fallen weg, durch die das Publikum verführt wird, zu glauben, der betr(effende) Arzt habe besonders große ärztliche Kenntnisse. (…) In Einzelzimmer kommen nur Patienten, die allein liegen müssen.“
Truppen aus Berlin rücken an, um die Räterepublik zu beseitigen
Schollenbruch kommt freilich nicht dazu, sein Programm umzusetzen. In der zweiten Aprilhälfte marschieren etwa 35.000 Soldaten der Reichswehr und Angehörige paramilitärischer Freikorps-Verbände Richtung München. Der nach Bamberg geflohene Ministerpräsident Hoffmann hatte kurz zuvor von Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) militärische Unterstützung angefordert, um die Münchner Räteregierung zu stürzen. Noske, der später den Beinamen „Bluthund“ erhielt, war schon in Berlin unerbittlich gegen Aufständische vorgegangen.
Nach dem Vormarsch der Reichstruppen kommt es zu schweren Kämpfen im Nordwesten der Landeshauptstadt bei Dachau. Schollenbruch fungiert jetzt nicht nur als Minister, sondern auch als leitender Arzt der revolutionären Roten Armee. Das heißt, seine vordringlichste Aufgabe ist es nun, für die Verwundeten zu sorgen.
Ihm zur Seite steht eine Frau: die 47-jährige Dermatologin Hildegard Menzi. Vor dem Krieg hat sie in Berlin – als erste Frau – eine Spezialpraxis für Geschlechtskrankheiten. Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen entwickelt sie ein Programm zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten. 1916 übersiedelt sie nach München und arbeitet als Assistenzärztin in der Hautklinik bei dem bekannten Dermatologen Leo von Zumbusch. Als ihre männlichen Kollegen aus dem Krieg zurückkehren, verliert sie ihre Stelle und eröffnet eine Kassenpraxis in der Maximilianstraße. Der Räteausschuss wählt sie in die Kommission für das Gesundheitswesen. Während der Kämpfe Ende April ist sie – als KPD-Mitglied – Stabsärztin der Roten Armee in Dachau. Ihr früherer Chef Leo von Zumbusch kämpft auf der Gegenseite. Er beteiligt sich im Freikorps Epp an der Niederschlagung der Revolution.
Das Ende der Revolution: Die Sieger üben Vergeltung
Die Räteregierung hat gegen die von Berlin entsandte Übermacht keine Chance: Am 1. Mai 1919 schließen die sogenannten „Weißen Truppen“ München ein und erobern die Stadt am nächsten Tag vollständig. Die Kämpfe fordern zahlreiche Opfer. 600 Tote werden später offiziell registriert, wahrscheinlich sind es sehr viel mehr. Auf beiden Seiten kommt es zu Gräueltaten und willkürlichen Erschießungen unbeteiligter Zivilisten.
Die Sieger rächen sich gnadenlos an den Unterlegenen.
2.200 Unterstützer der Räterepublik werden von Standgerichten zum Tode oder zu langen Haftstrafen verurteilt.
Auch die Ärzte Theophil Christen, Rudolf Schollenbruch und Hildegard Menzi kommen wegen Beihilfe zum Hochverrat vor Gericht. Alle drei werden freigesprochen.
Autor
Rainer Ulbrich, Freier Journalist, Am Glockenbach 10, 80469 München
(Bildnachweis Autorenbild: Foto: Oliver Bodmer)
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