Weichen richtig stellen

Dr. med. Gerald Quitterer

Allenthalben wird der Fachkräftemangel beklagt. Das ist nicht neu, das wissen wir seit 20 Jahren. Allein – den Mangel bei den Ärztinnen und Ärzten haben wir nicht, weil wir zu wenig Interessenten haben, sondern, weil sich die Politik die notwendigen Ausbildungsplätze offensichtlich nicht leisten will. Die Zahl der Medizinstudienplätze ist seit der Wiedervereinigung bundesweit um 6.000 zurückgegangen. Man muss kein Hellseher sein um sich auszurechnen, was das bedeutet.

Überall fehlen Ärzte. Das führt dazu, dass Praxen ohne Nachfolger schließen müssen, dass sich Kliniken wegen krankheits­bedingtem Personalmangel aus der Versorgung abmelden, dass in einigen Gesundheitsämtern keine Humanmedizinerinnen und ­Humanmediziner mehr zur Verfügung stehen.

Eine große Herausforderung ist beispielsweise, dass immer mehr unserer Kolleginnen und Kollegen in Teilzeit- und Angestellten­verhältnissen arbeiten wollen. Allein zwischen 2015 und 2022 stieg der Prozentsatz der im Freistaat in der ambulanten Versorgung angestellten Ärzte von 20,5 Prozent auf 31 Prozent an, wohingegen der Anteil der niedergelassenen Ärzteschaft von 79,5 auf 69 Prozent gesunken ist. Letztere sind es aber, welche maßgeblich die medizinische Versorgung im ambulanten Sektor ­sicherstellen und auch die Möglichkeit zur Anstellung bieten. Aus diesen Gründen ist es notwendig, die Attraktivität der Niederlassung zu erhöhen – etwa durch wirksamere Förderungen. Auch eine umgehende Novellierung der vollkommen veralteten Gebührenordnung für Ärzte gemäß dem vorliegenden Vorschlag der Bundesärztekammer würde zu einer Stabilisierung des ambulanten Sektors beitragen. Es braucht Anreize, die nachhaltig sind, beispielsweise Steuererleichterungen, dauerhaft. Und ein Bekenntnis zur Freiberuflichkeit, die dort in Gefahr ist, wo Kommerzialisierung Einzug hält, etwa durch die Schaffung von investorengetragene Medizinischen Versorgungszentren. Ärzte in den Kliniken müssen geschützt werden vor dem Profitdenken der Konzerne durch eine patienten- und aufgabengerechte ärztliche Personalausstattung sowie durch eine Reform des zu stark rendite­orientierten Systems der Krankenhausfinanzierung.

In dieser Situation dann auch noch die Neupatientenregelung zu streichen und das Dienstleistungsangebot von Apotheken in den ärztlichen Bereich hinein zu erweitern, grenzt an Hohn. Natürlich geht es um die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. In einem solidarisch getragenen Gesundheitssystem darf jeder den Anspruch auf die medizinische Leistung haben, die er benötigt und die er nicht selbst tragen kann. Wenn der Zugang dazu allerdings in einer ungesteuerten Weise geschieht, die die vorhandenen Ressourcen an ihre Grenzen bringt, braucht es Lösungen. Dies gelingt nicht durch Gesetze, die wirklichkeitsfremd sind – wie zuletzt das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Wirksame Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) geht anders und es gibt genügend Vorschläge. Die gern zitierte bestmögliche Versorgung kann nicht bedeuten, undifferenziert auf alles zu jeder Zeit und überall einen Anspruch zu erheben. Manche digitale Versorgungsangebote beflügeln diese Anspruchshaltung. Aus meiner Sicht muss man sich stets fragen: Welche Behandlung macht Sinn und was wird mittlerweile von der GKV finanziert, das nicht zu deren Lasten gehen darf.

In sozialen Brennpunkten einen Gesundheitskiosk zu etablieren, der niederschwellig den Zugang zu medizinischen Beratungsangeboten ermöglichen soll, macht Sinn. In Zusammenarbeit mit Haus- und Fachärztinnen und -ärzten und den vor Ort bestehenden Strukturen. Wenn allerdings jetzt in einem Eckpunktepapier schon wieder perspektivisch von der Übernahme der Heilkunde durch Pflegefachkräfte die Rede ist und die Kommunen den Abschluss schiedsamtsfähiger Verträge verlangen können, so werden die Weichen erneut falsch gestellt.

Das gilt insbesondere auch für den Zugang zur Notfallversorgung, bei der sich die Politik endlich für die Einführung einer standardisierten medizinischen Ersteinschätzung – wie etwa des Systems SmED – in den seit Jahren überlasteten Notaufnahmen der Kliniken entscheiden sollte. Ein solches Verfahren kann bei allen Patienten, die von sich aus die Notaufnahme eines Krankenhauses aufsuchen, angewandt werden, um diese in die jeweils passende Versorgungsebene zu leiten. Damit könnten die Notaufnahmen effektiv von Fällen entlastet werden, die dem ambulanten Sektor zuzuordnen sind und in den Arztpraxen der Regelversorgung oder in Bereitschaftspraxen behandelt werden können.

Es bedarf mehr Mut zur Steuerung und an dieser Stelle auch: Mehr Mut zum wirksamen Bürokratieabbau. Aus dem Bürokratie­index für die kassenärztliche Versorgung geht hervor, dass die Reduzierung des Bürokratieaufwands im vertragsärztlichen Bereich um 25 Prozent in den nächsten fünf Jahren jährlich über 13 Millionen Stunden zusätzlich für die Versorgung der Patienten bringen könnte.

Die entscheidende Drehschraube jedoch, um die Zukunft der ­medizinischen Versorgung zu sichern und die Herausforderung des zunehmenden Ärztebedarfs zu lösen, ist die Schaffung zusätzlicher humanmedizinischer Studienplätze in Deutschland, um wenigstens auf den Ist-Stand vor der „Wende“ zu kommen. Die Substitution ärztlicher Leistungen durch nichtärztliche Berufsgruppen ist dazu keine Alternative. Sie schließt weder haus- noch fachärztliche Versorgungslücken.

Ich fordere die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger in Brüssel, Berlin und in Bayern auf, endlich die Weichen richtig zu ­stellen und gemeinsam mit der Ärzteschaft Reformen umzusetzen.


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