Wie halten Sie es mit der Philosophie?
Die Notwendigkeit der Philosophie im Medizinstudium wird in zahlreichen Fachbeiträgen immer wieder unterstrichen. Der Tenor der Beiträge: Studium und Praxis der Humanmedizin seien heute naturwissenschaftlich geprägt; ärztliches Handeln beruhe jedoch auch gleichermaßen auf Ethik, Humanität und Philosophie. Grund genug für das „Bayerische Ärzteblatt“ dieser steilen These nachzugehen. Wir haben nachgefragt bei den sechs medizinischen Fakultäten der Bayerischen Landesuniversitäten: Wie halten Sie es mit der Philosophie? Lesen Sie hier – in alphabetischer Reihenfolge – die Kurzbeiträge.
Zwei integrierte Longitudinalkurse
Zum Wintersemester 2019/20 startet die erste Kohorte von 84 Studierenden ihr Studium der Humanmedizin im ersten integrierten Modellstudiengang Bayerns an der Universität Augsburg. Das Curriculum ist fächerübergreifend aufgebaut, umfasst einen klinischen und einen wissenschaftlichen Longitudinalkurs ab dem ersten Studiensemester und baut auf den beiden Schwerpunkten Environmental Health Sciences und Medical Information Sciences auf [1].
Obwohl diese beiden Schwerpunkte eher dem ersten Fundament ärztlichen Handelns nach Karl Jaspers [2] – der naturwissenschaftlichen Erkenntnis – zuzuordnen sind, wird auch das zweite Fundament, das Ethik, Humanität und Philosophie umfasst, integraler Bestandteil des Augsburger Curriculums sein. Das fächerübergreifend angelegte modulare Curriculum mit den beiden integrierten Longitudinalkursen bietet dabei eine ideale Voraussetzung zur Verknüpfung dieser beiden Fundamente. So sind naturwissenschaftliche Themen mit den dazugehörigen philosophischen Fragestellungen in den Modulen vereint und ermöglichen das Betrachten von Aspekten aus verschiedenen Perspektiven.
Diese Verknüpfungen werden im Augsburger Curriculum in allen Semestern thematisiert und im Sinne eines Spiralcurriculums in zunehmender Komplexität vertieft. So sind beispielsweise im vierten Semester im Modul „Leben & Sterben“ neben naturwissenschaftlichen Fächern wie Embryologie, Physiologie des Lebens und Sterbens und dem begleitenden anatomischen Präparierkurs ganz zentral auch ethische Aspekte am Lebensende integriert. In diesem Modul werden mit der Methode des problemorientierten Lernens Fragen zur Sterbebegleitung und Menschenwürde anhand von Fallbeispielen in Kleingruppen thematisiert und in Hospitationen, zum Beispiel auf einer Palliativstation, vertiefend reflektiert.
Ein weiteres Beispiel ist der klinische Longitudinalkurs, in dem die Studierenden vom ersten Semester an körperliche und apparative Untersuchungstechniken zunächst in Simulationen, ab dem dritten Semester auch mit Patienten, erlernen. Der Longitudinalkurs umfasst aber auch ein umfangreiches Kommunikationscurriculum. In diesem wird Kommunikation in verschiedenen Kontexten, wie zum Beispiel Anamneseerhebung, Patienteninformation und -aufklärung, Kommunikation in interprofessionellen Teams oder das Überbringen schlechter Nachrichten geübt. Hier sind Aspekte wie Empathie, Patientenzentrierung, Menschenwürde oder das Arzt-Patienten-Verhältnis von zentraler Bedeutung. Neben der praktischen Anwendung wird auch auf theoretische Aspekte, wie zum Beispiel verschiedene Lebenswelten und Grundlagen der Hermeneutik, eingegangen.
Im wissenschaftlichen Longitudinalkurs, der ebenfalls im ersten Semester beginnt, wird zusätzlich zu den praktischen Aspekten wissenschaftlichen Arbeitens auch das Reflektieren über Methoden aus wissenschaftstheoretischer Sicht miteinbezogen.
Neben der Integration in die Lehre werden philosophische und ethische Aspekte auch in das Prüfungskonzept, insbesondere als Bestandteil eines longitudinalen Portfolios, integriert. So wird zum Beispiel im Modul „Leben & Sterben“ eine formative Prüfung darin bestehen, über ein selbstgewähltes ethisches Thema zu reflektieren, einen Text darüber zu verfassen und in einem individuellen Feedbackgespräch Rückmeldung zu erhalten.
Für die Umsetzung streben wir, sowohl in der Entwicklung des Curriculums, als auch beim Lehren und Prüfen, enge Kooperationen mit den Lehrstühlen der philosophisch-sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg an.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Sensibilisierung für unterschiedliche philosophische Aspekte ärztlichen Handelns fest integrierter Bestandteil im Augsburger Medizincurriculum sein wird.
Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-ärzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.
Autoren
Privatdozentin Dr. Inga Hege 1
Privatdozent Dr. Reinhard Hoffmann 1, 2
Christina Rohrer 1
Professorin Dr. Martina Kadmon 1
1 Medizinische Fakultät der Universität Augsburg
2 Klinikum Augsburg, Institut für Labormedizin und Mikrobiologie
Erlanger Perspektiven
„So sind wir denn, um das stolze Wort zu gebrauchen … in das naturwissenschaftliche Zeitalter eingetreten“, stellte Rudolf Virchow (1821 bis 1902), Begründer der Zellularpathologie, 1893 programmatisch und zugleich sehr selbstbewusst fest. Als Virchow, einer der führenden Köpfe der Medizin seiner Zeit, dies äußerte, war das früher für Medizinstudenten übliche „Tentamen (‚Versuch‘) philosophicum“ bereits seit mehr als drei Jahrzehnten (1861) durch das „Tentamen physicum“ ersetzt worden, nicht zuletzt auf Betreiben von Virchow, der 1845 apodiktisch festgestellt hatte, dass die „naturwissenschaftliche Methode ... übrigens die einzige Methode ist, die überhaupt existiert.“ (Rothschuh 1978). Hat seither also die „Philosophie“ in der Medizin ausgespielt?
Die einfach erscheinende Frage bedürfte einer sorgfältigen medizinhistorischen Analyse, die hier nur angedeutet werden kann. Zunächst einmal ist zu fragen, welche Rolle die „Philosophie“ in der vormodernen Medizin, vor der Wende zur Naturwissenschaft, denn gespielt hat. Die laienhafte Vorstellung, dass die vormoderne Medizin „philosophischer“ gewesen sei, beruht auf einer optischen Täuschung und ist beeinflusst vom Topos der guten alten Zeiten. Tatsache ist, dass bereits in der Antike die „Trennung“ der Medizin von der Philosophie als wesentlicher Schritt zur Begründung der Heilkunst (gr. „techne iatrike“, lat. „ars medica“) gesehen wurde, so das Zeugnis des lateinischen Enzyklopädisten Celsus (1. Jh. n. Chr.). Die offenkundigen Überschneidungen medizinischer Konzepte mit naturkundlichen Theorien waren unvermeidlich und vergleichbar der Parallelität der modernen Naturwissenschaften und der (inzwischen molekularen) Medizin. Die Medizin hat jeweils diejenigen Paradigmen aufgenommen und für ihre Zwecke adaptiert, die den besten Schlüssel zur Lösung der Fragen von Gesundheit, Krankheit und Heilung anboten.
Doch zurück zur Rolle der Philosophie: Die vormoderne Medizin grenzte sich einerseits von der Philosophie ab, betonte jedoch ihre Wissenschaftlichkeit, ihre Verantwortlichkeit und ihre gesellschaftliche Stellung durch den Anspruch, selbst auch eine (medizinische) Philosophie zu pflegen. Dass der „wahre Arzt auch Philosoph“, der „philosophische Arzt gottgleich“ sei, sind Aphorismen, die seit der Antike (Galen und Hippokrates) im Selbstbild der Ärzteschaft eine große Rolle spielen. Allerdings steht diesem hohen Anspruch der lapidare Befund entgegen, dass es unter Ärzten aller Epochen und Kulturen kaum bedeutende Philosophen gegeben hat. Die Gründe hierfür bedürften einer eigenen Betrachtung.
Doch nun zur Rolle der „Philosophie“ im Curriculum der Medizinischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg. Hier geht es nicht darum, in einen Überbietungswettbewerb hinsichtlich des philosophischen Angebots in der Lehre einzutreten. Es gibt Studierende der Medizin, die erfreulicherweise ein Parallelstudium der Philosophie absolvieren; diese kleine Gruppe sei hier ausgeklammert. Die Mehrheit der Medizinstudierenden interessiert sich kaum für das Fach Philosophie, ist jedoch philosophischen Überlegungen zu (historischer) Genese, Art, Reichweite und Grenzen der Medizin gegenüber sehr aufgeschlossen. Daher finden sich im Erlanger Curriculum sowohl in der nach Approbationsordnung vorgeschriebenen Pflichtlehre als auch im weiten Wahlpflichtbereich zahlreiche Lehrveranstaltungen, in denen die Medizin unter philosophischen Aspekten thematisiert wird. Für die beiden Fächer Geschichte der Medizin und Medizinethik ist dieser Zugang der wichtigste überhaupt. Entsprechende, auch prüfungsrelevante Lehrveranstaltungen, thematisieren historische und anthropologische Themenfelder sowie Fragen der theoretischen und klinischen Ethik. Das Interesse und der Einsatz der Studierenden in diesen Kursen sind beachtlich.
Darüber hinaus finden sich im erwähnten Wahlpflichtbereich Lehrveranstaltungen zahlreicher vorklinischer und klinischer Fächer, in denen philosophische (Grenz-)Fragen der Medizin thematisiert werden. Die Palette reicht von dem in der Anatomie angebotenen Seminar „Sterben und Tod in anthropologischer Perspektive“ über „MARS – medizinische Anwendungen zur Reduktion von Stress“, „Akustische Kommunikation. Sprache und Musik“, „Psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Noch ‚normal‘ oder schon ‚gestört‘“, über „Future of Medicine“ zu multiprofessionellen Seminaren der Palliativmedizin und der Veranstaltung „Entstehung der modernen Psychiatrie und Psychologie“. So ist zwar das Fach Philosophie selbst nicht Gegenstand dieser Lehrveranstaltungen, aber die Studierenden werden motiviert und angeleitet, sich mit philosophischen Fragen der naturwissenschaftlich basierten Medizin schöpferisch auseinanderzusetzen. Insgesamt zielt dieser Erlanger Unterricht in bester philosophischer Tradition darauf, die Neugierde als Basis (je-)der Wissenschaft zu kultivieren.
Autoren
Professor Dr. Jürgen Schüttler,
Dr. phil. Nadine Metzger,
Professor Dr. Hans Drexler,
Professor Dr. Karl-Heinz Leven
Wahlfächer mit Philosophie-Studierenden, Beteiligung an Forschung
Um das ärztliche Denken und Handeln jenseits eines funktionalistischen naturwissenschaftlichen Blickes auf den Menschen im Medizinstudium zu schärfen und zu schulen, sind neben den bereits gut etablierten medizinhistorischen und -ethischen Lehrinhalten auch Grundkenntnisse in verschiedenen Bereichen der Philosophie erforderlich und werden aktuell von vielen Seiten diskutiert.
An der Medizinischen Fakultät der LMU München bietet das Institut für Ethik, Geschichte und Theorie (EGT) der Medizin den Medizinstudierenden verschiedene Möglichkeiten, sich mit philosophischen Fragen auseinanderzusetzen, die für ihre spätere ärztliche Tätigkeit relevant sind. Die Lehre dazu findet bislang vor allem in Form von Wahlfächern in der Vorklinik statt und wird häufig interdisziplinär mit Studierenden der Philosophie durchgeführt.
Wissenschafts- und Erkenntnistheorie vermitteln den Studierenden ein Verständnis, wie medizinische Erkenntnisse entstehen, wie beobachterabhängig und verlässlich sie sind. Eng verbunden ist damit auch die Frage, ob die Medizin eine Wissenschaft ist, und was sie gegebenenfalls als praktische Wissenschaft charakterisiert. In der Auseinandersetzung mit dem wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis der Medizin können die Studierenden besser verstehen, wo unvermeidbare Spannungen zwischen der auf standardisiertem Erkenntnisgewinn ausgerichteten biomedizinischen Forschung und dem auf den einzelnen Patienten ausgerichteten ärztlichen Handeln liegen. Die Einsicht in die Konstruktivität von Wahrnehmung sensibilisiert die Studierenden für die individuelle Wirklichkeit der Patienten und fördert das ärztliche Verständnis für die subjektiven Sichtweisen des Patienten. Ein übergreifendes bio-psycho-soziales Modell des menschlichen Organismus erlaubt es den Studierenden, die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Körper, Seele und sozialem Umfeld des Patienten angemessen zu berücksichtigen.
Die Philosophie des Geistes fördert das Verständnis für den Zusammenhang von mentalen und physischen Zuständen sowie für die Natur von Emotionen und deren Verhältnis zu Kognitionen. Insbesondere in Neurologie, Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie haben diese Fragen eine große Praxisrelevanz. Eine Auseinandersetzung mit zentralen Begriffen wie Krankheit ist essenziell, um mit Unsicherheiten bei der Bestimmung von Krankheit und Gesundheit besser umgehen zu können. Wachsende Erkenntnisse etwa über genetische Erkrankungsrisiken und Möglichkeiten zur Optimierung des Menschen fordern aktuell unser Krankheitsverständnis in besonderer Weise heraus.
Anthropologie und Technikphilosophie ermöglichen es den Studierenden, verschiedene Menschenbilder, das Verhältnis des Menschen zur Natur, zur Technik und zur Kultur besser begreifen zu können. In Zeiten einer zunehmenden Technisierung und Digitalisierung der Medizin werden philosophische Reflexionen hierzu immer bedeutender. Politische Philosophie und Sozialphilosophie erlauben schließlich eine kritische Auseinandersetzung mit Gerechtigkeitsfragen in Medizin und Public Health und fördern die Sensibilität für die sozioökonomischen und politischen Determinanten von Gesundheit und Krankheit.
Die erworbenen Kenntnisse können die Studierenden weiter vertiefen, indem sie an Forschungskolloquien und Seminaren am Institut für EGT der Medizin teilnehmen, als studentische Hilfskräfte in Forschungsprojekten mitarbeiten, am Institut promovieren oder an Veröffentlichungen zu philosophischen Grundfragen der Medizin mitwirken. Viele Studierende bestätigen ein starkes Bedürfnis nach mehr philosophischen Inhalten in der Lehre und entwickeln selbst neue Konzepte für das Medizinische Curriculum München (MeCuM). Angesichts der Bedeutung für eine humane Medizin mit den Herausforderungen Ökonomisierung und Technisierung wäre es wünschenswert, die philosophischen Grundlagen der Medizin zusätzlich noch stärker im Pflichtcurriculum des klinischen Ausbildungsabschnitts zu integrieren. Der interfakultäre Austausch mit der Philosophie hat sich als fruchtbar erwiesen und sollte sowohl auf Seiten der Lehrenden als auch auf Seiten der Studierenden intensiviert werden.
Autoren
Dr. Dr. phil. Orsolya Friedrich,
Professor Dr. Martin R. Fischer, MME (Bern),
Professor Dr. med. dent. Reinhard Hickel,
Professor Dr. Georg Marckmann, MPH
Ärztliche Haltung, ethische Reflexionsfähigkeit und professionelle Subjektivität
Wer Ärztin oder Arzt werden möchte, muss lernen und verstehen, dass und wie man Menschen als Menschen wahr- und ernstnimmt. Ein solches Verständnis kann jedoch nicht allein zwischen den Zeilen der medizinischen Lehrbücher entwickelt werden. Es muss explizit thematisiert und gezielt gefördert werden.
Am Anfang steht die Frage: Was soll am Ende des Medizinstudiums herauskommen? Denn lautet die Antwort „vollausgebildete Ärztinnen und Ärzte“, dann stellt sich sogleich die zweite Frage: Wie ist dieses Ziel über das Medizinstudium tatsächlich zu erreichen? Ärzte müssen über medizinisches Wissen und Fachkompetenzen verfügen – und beides so gut wie möglich. Doch zum guten Arztsein gehört ebenso eine entsprechende Haltung, ethische Reflexionsfähigkeit und ein ärztlicher Charakter, der den tagtäglichen Herausforderungen der ärztlichen Praxis nicht nur fachlich, sondern auch menschlich gewachsen ist. Philosophie und andere Geisteswissenschaften spielen daher im Medizinstudium eine entscheidende Rolle.
Im Jahr 2003 wurde deshalb das bis dahin extrakurrikulare Fach Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin fester Teil der Approbationsordnung. An der Technischen Universität München wird es im Rahmen einer Hauptvorlesung vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin unterrichtet. Wesentliche Lernziele werden dabei themenorientiert abgedeckt; so wird etwa das Arzt-Patienten-Verhältnis sowohl in historischer wie auch ethischer Dimension reflektiert – immer mit Bezug zum klinischen Alltag, oft anhand von klinischen Fällen. Um den Studierenden die praxisrelevante Verknüpfung von geisteswissenschaftlichen und medizinischen Aspekten plastisch vor Augen zu führen, findet die Vorlesung teils im Tandem statt, etwa zwischen Ethikerin und Kliniker. Die ethische Reflexionsfähigkeit der Studierenden wird auch in den Ethikseminaren geschult, die, teils gemeinsam mit der Palliativmedizin, verschiedene ethische Aspekte der ärztlichen Arbeit fallorientiert beleuchten. Zusätzlich gibt es eine Reihe extrakurrikularer Angebote, wie Wahlpflichtfächer mit historischem oder ethischem Schwerpunkt und interdisziplinäre Veranstaltungen zu Schwerpunktthemen am Institut.
Darüber hinaus wurde vor zwei Jahren das Programm LET ME (Lettered Medicine/Lettered Medical Education) ins Leben gerufen, mit dem Ziel, Studierenden zu einer professionellen Subjektivität zu verhelfen. Denn wer die eigene Subjektivität weder wahr- noch ernst nimmt, kann auch keine intersubjektive Beziehung zu anderen aufnehmen, und wer kein kritisches Selbst-Verständnis für das eigene Arzt- und Menschsein entwickelt, wird auch nicht das Menschsein des jeweiligen Gegenübers angemessen verstehen können. LET ME strebt daher eine Kultivierung des Medizinstudiums durch künstlerische und geisteswissenschaftliche Impulse und vielseitiger, interaktiver Formate an, dank derer die Studierenden in eine Auseinandersetzung mit ihren eigenen, professionellen wie persönlichen Bedingungen und Konsequenzen treten können.
Eine solche Auseinandersetzung hat im ärztlichen und vor allem klinischen Kontext eine besondere Dringlichkeit, ist aber gleichermaßen nützlich und sinnvoll für andere Fachbereiche und Ausbildungsziele. Entsprechend wurde der Grundgedanke von LET ME auch in den neugegründeten Elitemasterstudiengang Biomedical Neuroscience übertragen. Dort findet parallel zur naturwissenschaftlichen Ausbildung über drei Semester ein Pflichtmodul zusammen mit der Hochschule für Philosophie statt, das es den Absolventen ermöglichen soll, nicht nur exzellente Forscherinnen und Forscher, sondern auch selbstkritische Subjekte zu werden, die sowohl ihrem Forschungsgegenstand als auch ihrer Forschungstätigkeit reflektiert gegenüberstehen. Perspektivisch verbinden sich all diese Aktivitäten mit der Hoffnung, dass Natur- und Geisteswissenschaften nicht länger als Antagonisten, sondern in ihrem sinnvollen Wechselspiel verstanden werden. Um echte Ärztinnen und Ärzte aus dem Studium zu entlassen, ist ein solches Wechselspiel aus unserer Sicht unabdingbar.
Autoren
Professor Dr. Pascal O. Berberat,
Professor Dr. Peter Henningsen,
Daniel Teufel, M. A.,
Professor Dr. Eckhard Frick,
Professor Dr. Gerrit Hohendorf,
Professor Dr. Alena Buyx
Integration philosophischer Inhalte in das Studium der Humanmedizin
Philosophische Themen in der Medizin bleiben aktuell. Reflexionen über das Menschenbild und die Ethik im Kontext von Gesundheit und Krankheit sind für jede Ärztin und für jeden Arzt wichtig. Sowohl das Querschnittsfach Geschichte, Theorie und Ethik in der Medizin, als auch das für Regensburg konzipierte Wahlfach Philosophie und Wissenschaftstheorie der Medizin dienen der Ausbildung und Förderung von Reflexions- und Diskurskompetenzen.
Ärzte beschäftigen sich ihr Berufsleben lang mit den Grundthemen der Medizin: Gesundheit – Krankheit – Heilung – Tod: Es handelt sich um zentrale Menschheitsfragen, zu denen Philosophie und Wissenschaftstheorie wichtige Einsichten liefern können. Der Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog (2015) fordert (Kapitel 6.4.1 und 6.4.2) von der Ärztin/dem Arzt in ihrer/seiner Rolle als Gelehrte(r) Kompetenzen im Bereich der Wissenschaftstheorie, Epistemologie und Ethik, die thematisch dem Grenzbereich zwischen Philosophie und Medizin zuzuordnen sind. Diese finden bislang keine ausreichende Abbildung im Curriculum.
An der Fakultät für Medizin der Universität Regensburg ist die gesamte Thematik grundsätzlich dem Querschnittsbereich Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin zugeordnet. Die Lerninhalte Geschichte der Medizin werden durch Dozierende des Instituts für Geschichte der Medizin, Universität Würzburg, vermittelt, während die Lehre der Medizinethik und der Theorie der Medizin durch wissenschaftliche Mitarbeiter unserer Fakultät erfolgt, die sich hierfür fachlich spezialisiert haben. Auch wenn an unserer Fakultät kein entsprechender Lehrstuhl besteht, soll das Lehrangebot durch das Wahlfach „Philosophie und Wissenschaftstheorie der Medizin“ verbreitert werden. Dieses Wahlfach soll im Sinne des klassischen Bildungsanspruchs der Humboldt`schen Universität den Horizont der Studierenden für grundlegende Fragen aus den Grenzbereichen der Medizin weiten und ihnen eine andere Perspektive im Sinne der „medical humanities“ auf die Medizin und den ärztlichen Alltag eröffnen (siehe Tabelle).
Tabelle: Struktur des Wahlfaches Philosophie und Wissenschaftstheorie der Medizin (je eine Doppelstunde)
In der Auseinandersetzung mit ausgewählten klassischen Texten aus Philosophie und Medizin sollen neue Reflexions- und Diskurskompetenzen erschlossen werden. Die Studierenden werden „sprachfähig gemacht“ im Hinblick auf den zunehmend wichtigeren interdisziplinären Austausch. Das Wahlfach vermittelt so Kompetenzen, die in der Rolle der Ärztin/des Arztes als Gelehrte/n verortet sind, und schärft somit das Profil der Absolventen. Im Rahmen des Wahlfaches werden vier thematische Schwerpunkte erarbeitet:
1) Grundbegriffe: Gesundheit, Krankheit
2) Anthropologie: Der gesunde und der kranke Mensch
3) Wissenschaftstheorie: Medizin zwischen Können und Wissen
4) Ethik: Medizin zwischen Können und Sollen.
Thematisch folgt auf die medizin- und philosophiehistorische Einführung eine Vorstellung der zentralen Kategorien Gesundheit und Krankheit aus medizinischer und medizinphilosophischer Sicht, es wird auf die Frage nach dem gesunden und kranken Menschen übergeleitet. Hierzu werden wesentliche Positionen der philosophischen Anthropologie anhand ausgewählter Texte rekonstruiert und diskutiert. Die Diskussion des Leib-Seele-Problems und die damit verbundenen methodischen Probleme leiten über zu Fragen der Theorie der Medizin als Wissenschaft. Hierbei wird exemplarisch zum einen das Werk des Mediziners und Wissenschaftstheoretikers Ludwik Fleck vorgestellt, zum anderen wird auf Aspekte der Systemtheorie von Niklas Luhmann eingegangen. Die Bestimmung der Medizin als praktische Wissenschaft im aristotelischen Sinn sowie die sich daraus ergebenden Perspektiven auf die Medizin als ärztliche Handlungswissenschaft im Spannungsfeld zur klinischen Forschung werden dann behandelt und dies am Beispiel von Indikation und Diagnose abgeschlossen.
Sowohl aus der ärztlichen Praxis als auch aus der klinischen Forschung ergeben sich zahlreiche ethische Probleme, die behandelt und kasuistisch an ausgewählten Fällen diskutiert werden. An den Themen „gute ärztliche Sorge“ und „die gute Ärztin/der gute Arzt als Ideal“ wird aus praktisch- philosophischer Perspektive der Versuch einer Synthese des gesamten Seminars unternommen.
Fazit: Die Reflexion über philosophische Grundfragen der Medizin ist unabdingbar für eine gute Ärzteschaft und eine gute Medizin der Zukunft. Sie muss im Studium der Humanmedizin ausreichenden Raum erhalten!
Autoren
Professor Dr. Thomas Bein, M. A., 1
Privatdozent Dr. Jörg Marienhagen, 2
Professor Dr. Bernd Salzberger, 3
Professor Dr. Dr. Torsten Reichert, 4
1 Klinik für Anästhesiologie, Vorsitzender Klinisches Ethikkomitee, Dekanat Fakultät für Medizin (Qualität und Entwicklung in der Lehre), E-Mail: thomas.bein(at)ukr.de
2 Abteilung für Nuklearmedizin
3 Studiendekan, Fakultät für Medizin, Stabstelle Infektiologie
4 Dekan, Fakultät für Medizin, Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie
alle Klinikum der Universität Regensburg, 93042 Regensburg
Denkanstöße im Würzburger Medizinstudium: das eigene Denken und Handeln reflektieren
Die Medizinischen Fakultäten in Deutschland sind aktuell aufgerufen, die bestehenden Curricula mit dem Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM – www.nklm.de) abzugleichen und praktische Erfahrungen bei der Umsetzung zu sammeln. Dort sind neben der fachlichen Expertise die vielfältigen Rollen definiert, auf die das Medizinstudium hinführen soll: Kommunikator/-in, Mitglied eines Teams, Gesundheitsberater/-in und -fürsprecher/-in, Verantwortungsträger/-in und Manager/-in sowie professionelle/r Handelnde/r. In diesen Rollen sind im Sinne übergeordneter Kompetenzen die verschiedensten Aspekte des Arztberufes inkludiert, eben auch erstmals persönliche, soziale, humanistische und gesellschaftsrelevante Kompetenzen, die nicht primär auf naturwissenschaftliche Grundlagen und klinische Diagnosen abzielen. Bereits mit der Approbationsordnung für Ärzte (ÄApprO 2002) wurden fächerübergreifend zu unterrichtende „Querschnittsbereiche“ eingeführt, hinsichtlich der hier angesprochenen philosophisch-geisteswissenschaftlichen Kompetenzen ist der Querschnittsbereich 2 „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“ hervorzuheben.
Abbildung: Mapping der Rolle des „Professionell Handelnden“ (siehe www.nklm.de, unter anderem selbstlose Haltung, ethische Entscheidungsfindung, Übernahme von Verantwortung) über das Curriculum Humanmedizin in Würzburg mit den angegebenen Fächern und Querschnittsbereichen (QB) vom ersten bis zehnten Semester. In der Farbe gelb sind implizite Lernziele gekennzeichnet, in Grüntönen sind explizite Lernziele dargestellt (verschriftlicht zum Beispiel in Folien, Handouts): hellgrün = Lernzielabdeckung weniger als 50 Prozent, mittelgrün = 50 bis 75 Prozent, dunkelgrün = mehr als 75 Prozent.
Des Weiteren wurden im Sommersemester 2018 die übergeordneten Zielkompetenzen bzw. Qualifikationsziele für den Studiengang Humanmedizin in einem Konsensprozess erstellt und veröffentlicht: www.med.uni-wuerzburg.de/studium/zielkompetenzen/. Auch hier werden die verschiedenen Facetten der Berufsbefähigung dargestellt und schließen gesellschaftliches Engagement und Persönlichkeitsentwicklung mit ein.
Die theoretische Reflexion über die Medizin und die Rolle des Arztes hat in Würzburg ihren zentralen Platz im Querschnittsbereich Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, der in Würzburg, für alle Studierenden verpflichtend, im zweiten klinischen Semester unterrichtet wird. In einer interdisziplinären Ringvorlesung und in mehr als einem Dutzend Kleingruppenseminaren werden hier insbesondere Fragen der praktischen Philosophie/Ethik sowie Grundlagen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie und der Anthropologie vermittelt. Scharnierfunktion besitzt die Medizingeschichte, die in der Analyse von historisch fernen Wissens- und Wissenschaftsformen, Verhaltensmustern und Rollenbildern, soziokulturell vermittelten Normen und Werten sowie der sozialen, sozioökonomischen und politischen Voraussetzungen und Konsequenzen medizinischen Wissens und ärztlichen Handelns auf allen Ebenen auf eine vertiefte Reflexion unserer Gegenwart abzielt. Jenseits der curricularen Pflichtlehre gibt es freiwillige Begleitveranstaltungen bzw. ergänzende Unterrichtsangebote, in denen die Medizinstudierenden über das eigene Denken und Handeln reflektieren und ihre professionelle Haltung weiterentwickeln können (siehe Tabelle).
Tabelle: Zusatzveranstaltungen im Medizinstudium mit „Denkanstößen“
Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-ärzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.
Autoren
Universitätsprofessorin Dr. Sarah König, MME,
Professor Dr. Fritz Dross
Institut für Medizinische Lehre und Ausbildungsforschung, Universitätsklinikum Würzburg, Josef-Schneider-Straße 2 – Haus D6, 97080 Würzburg, Tel. 0931 201-55220, E-Mail: koenig_sarah(at)ukw.de
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